Weisheit in dieser Form als Zustand könnte sinnvoll mit dem Begriff Gleichmut bezeichnet werden. Im Kontext von Liebe und Mitgefühl bezieht sich Gleichmut auf das Bewusstsein, dass wir und die Menschen, die wir lieben, trotz unserer Wünsche und Bemühungen immer wieder von Zeit zu Zeit leiden, und dass unser Leiden oft auf unsere tief verwurzelten inneren Denkgewohnheiten zurückgeht. Diese erweiterte Bewusstheit des Zustandes von Gleichmut ist das, was Offenheit und Akzeptanz in Momenten unterstützt, in denen man Mitgefühl empfindet. Sie erzeugt eine Bereitschaft, alles anzunehmen, was kommt, ohne Bedingungen daran zu knüpfen, dass man Anteil nimmt und fürsorglich handelt – zum Beispiel die Bedingung, dass fürsorgliches Handeln tatsächlich eine gute Wirkung auf das Leiden hat (siehe Kapitel 6).
Mitgefühl und Weisheit als Eigenschaften der Persönlichkeit
Wenn wir Klienten und uns selbst beibringen, Momente der Liebe und des Mitgefühls selbst herzustellen – und uns vornehmen, dies häufig zu tun –, entstehen dadurch nach der Broaden-and-build-Theorie begleitende Momente erweiterter Bewusstheit, ein innerer Zustand, der Weisheit und Gleichmut begünstigt. Mit der Zeit sammeln und verfestigen sich solche Momente und bilden dauerhafte Eigenschaften der Persönlichkeit, die dann das Potential besitzen, neue bleibende Ressourcen von Mitgefühl und Weisheit zu bilden und dadurch Wohlbefinden und Gesundheit zu fördern. Mitgefühl und Weisheit werden zu Eigenschaften der Persönlichkeit, wenn sie automatisch und zur Gewohnheit werden. Anders gesagt, wenn die Schwelle für die Erfahrung eines bestimmten emotionalen oder inneren Zustandes niedrig ist und er in vielfachen verschiedenen Umständen in Erscheinung tritt, kann dieser häufig auftretende Zustand als eine Eigenschaft der Persönlichkeit beschrieben werden – als ein andauernder Charakter, nicht als eine bestimmte Empfänglichkeit in einem bestimmten Moment oder unter bestimmten Bedingungen.
Die Persönlichkeit ist daher in gewissem Maß plastisch und mit der Zeit der Veränderung unterworfen, die auf den gewohnten Emotionen und inneren Zuständen eines Menschen beruht. Wenn wir unsere tägliche Zufuhr an Liebe, Mitgefühl und anderen positiven Emotionen steigern, nähren wir die Entwicklung des Charakters und unser psychisches Wachstum. Wenn wir mehr mitfühlende und weise Gemeinschaften haben möchten, können wir die Aufmerksamkeit auf „Mikromomente“ liebevoller sozialer Verbundenheit richten und darauf hinwirken, dass es häufiger zu diesen Mikromomenten kommt.
Übungen zur Entwicklung positiver Emotion
Meditation Liebender Güte
Meine eigenen kürzlich durchgeführten empirischen Tests der Hypothese, dass positive Emotionen beträchtliche persönliche Ressourcen aufbauen, beziehen sich auf eine alte buddhistische Technik zum Training des Geistes, der wir sind schon begegnet sind: auf die Meditation Liebender Güte (mettā) (Germer, 2010; Salzberg, 1997). Während sich der größte Teil der westlichen wissenschaftlichen Erforschung der Meditation auf die Achtsamkeitsmeditation konzentriert hat, habe ich mich dafür entschieden, die Wirkungen der Meditation Liebender Güte zu untersuchen, weil sie unmittelbarer darauf zielt, positive Emotionen hervorzurufen, besonders in Beziehungen. Die Meditation Liebender Güte ist eine Technik, die verwendet wird, um guten Willen und Gefühle der Wärme und Fürsorge für sich selbst und für andere zu stärken und somit als dauerhafte Reaktionen zu konditionieren. Wie bei anderen Meditationstechniken auch gehört zu ihr stille Kontemplation im Sitzen, oft mit geschlossenen Augen und einem anfänglichen Fokus auf der Atmung und der Herzregion. Anfänger können dies etwa 10 Minuten lang tun. Wenn die Praxis vertrauter und leichter wird, kann man mit längeren Zeitabschnitten experimentieren, wenn möglich mit dem Ziel von 25 Minuten täglich. Randomisierte kontrollierte Tests belegen eine breite Palette von positiven Wirkungen dieser Praxis nach nur 2 bis 3 Monaten (Fredrickson et al., 2008).
Die Meditation Liebender Güte ähnelt ein wenig der angeleiteten Arbeit mit Vorstellungsbildern, obwohl die Ziele der Technik eher die Gefühle der Liebe und des Mitgefühls als diese Bilder an sich sind. Manche finden diese Meditation zuerst vielleicht „süßlich“ oder unrealistisch. Dieser Reaktion kann man entgegenwirken, wenn man die Übung mit Weisheit ausgleicht, d. h., wenn man die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Realität und die Unvermeidlichkeit von Leiden und dessen Bedingungen richtet, sondern auch auf die starken gegenseitigen Verbindungen zwischen Menschen und auf die fundamentale Ähnlichkeit aller Menschen. In diesem Kontext formulieren wir die Wünsche für Glück und Wohlbefinden, die den Kern der Meditation Liebender Güte bilden.
Meditation Liebender Güte
• Richten Sie Ihr Bewusstsein in diesem stillen Moment auf die Empfindungen Ihres Herzens und denken Sie an einen Menschen, für den Sie schon warme und zarte Gefühle und Mitgefühl empfinden. Dies kann ein Kind, ein Partner oder auch ein Haustier sein, jemand, der Sie allein schon beim Gedanken an ihn lächeln lässt. Ihr Ziel ist es, auf natürliche Weise warme und zarte Gefühle zu wecken, indem Sie visualisieren, was Sie fühlen, wenn Sie mit diesem geliebten Menschen in Kontakt sind.
• Wenn diese zarten Gefühle der Liebe und des Mitgefühls einmal verankert sind und echte Wärme und Freundlichkeit bewirken, lassen Sie das Bild dieses besonders geliebten Menschen los und halten Sie das Gefühl einfach in Ihrer Herzgegend.
• Weiten Sie dieses warme Gefühl jetzt auf sich selbst aus. Versuchen Sie, sich selbst so tief und so rein wertzuschätzen, wie Sie Ihr eigenes neugeborenes Kind wertschätzen würden. Für viele Menschen besonders im Westen ist dies eine große Hürde. Wir sind nicht daran gewöhnt, unsere Liebe auf uns selbst zu richten. Deshalb braucht es Geduld und Übung, wenn das Gefühl echt sein soll. Zunächst kann es sein, dass Sie lange Zeit damit verbringen, die Liebe auf sich selbst zu lenken, bevor sich dieses Gefühl einstellt.
• Die traditionelle Meditation Liebender Güte ist von einer Reihe von Aussagen begleitet, die Sie still für sich wiederholen. Die Worte selbst sind nicht so entscheidend wie die Gefühle und Emotionen, die sie hervorrufen. Formulieren Sie die Aussagen so um, wie sie Ihr Herz am meisten berühren. Die traditionellen Aussagen lauten etwa so: „Möge dieser bestimmte Mensch (oder ich, wir, er, sie oder sie) sich sicher fühlen. Möge er glücklich sein. Möge er sich gesund fühlen. Möge er unbeschwert leben”. Wiederholen Sie diese Sätze langsam und ruhig still für sich. Lassen Sie sie echte Wärme und Zartgefühl in Ihnen entwickeln, während Sie Ihre Aufmerksamkeit von sich selbst einem immer größer werdenden Kreis anderer Menschen zuwenden.
• Lassen Sie dann Ihre warmen und zarten Gefühle und Ihr Mitgefühl zu anderen ausstrahlen, erst zu einem Menschen, den Sie gut kennen. Dann denken Sie nach und nach an alle Ihre Freunde und an Ihre ganze Familie und dann an alle Menschen, mit denen Sie sich verbunden fühlen oder die Sie kennen, wenn auch nur entfernt, wie die Person, mit der Sie bei Ihrem letzten Anruf der Hotline gesprochen haben, um technische Unterstützung zu bekommen.
• Als Letztes richten Sie Ihre Gefühle der Liebe, Freundlichkeit und Güte auf alle Menschen und Geschöpfe der Welt. Um dies zu tun, können Sie an Ihre Stadt, dann Ihre nähere Umgebung, an das ganze Land, an den Kontinent und schließlich an den ganzen Planeten denken.
• Wenn Sie Ihre Meditation beenden, erinnern Sie sich einfach daran, dass der Sinn der Übung darin besteht, Ihr eigenes Herz und Ihre Emotionen so zu konditionieren, dass sie diese Gefühle der Freundlichkeit und Wärme leichter immer dann in sich wecken können, wenn Sie möchten.
Empirische Belege lassen den Schluss zu, dass die regelmäßige Praxis der