Wie sich das Gehirn neu verknüpft
Jahrzehntelange Forschung hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass das menschliche Gehirn sehr anpassungsfähig ist.20 Wird eine bestimmte Aufgabe wiederholt ausgeführt, verknüpft sich das Gehirn so, dass es diese Aufgabe immer besser erfüllen kann. Somit wird das Gehirn durch jede neue Gewohnheit frisch verknüpft. Gewohnheiten wie Meditation, Training und das Fühlen von Dankbarkeit verändern Gehirn und Körper tatsächlich, sodass wir unsere Emotionen allmählich besser regulieren können.21 (Auch helfen uns diese Gewohnheiten dabei, dass das Immun- und Verdauungssystem sowie andere Systeme ebenfalls effektiver funktionieren!)
Das heißt, jedes Mal, wenn wir uns davon abhalten, in einen »elterlichen Tobsuchtsanfall« auszubrechen, bauen wir an den Nervenbahnen, die uns beim Beruhigen unterstützen, damit wir auch dann zentriert bleiben können, wenn das Leben nicht rund läuft.22 Der einzige Haken? Diese Gewohnheiten müssen so lange trainiert werden, bis das Gehirn neu verknüpft ist und selbst dann müssen sie regelmäßig praktiziert werden, um die Verschaltung aufrechtzuerhalten.
Das ist eine große Verpflichtung. Aber Sie werden merken, wie sehr sich das lohnt. Während Sie immer achtsamer werden, selbst dann, wenn Sie innerlich zu kochen beginnen, werden Sie verhindern können, dass sich die Emotionen Ihrer bemächtigen. Es braucht tägliche Übung, damit wir in jenen schwierigen Augenblicken die Liebe wählen können.
Hier folgt ein kurzer Blick darauf, was im Gehirn vorgeht, wenn Sie sich aufregen. Danach betrachten wir, wie Sie diese Automatismen neu verknüpfen können.
Der Hirnstamm ist der Teil des Gehirns, der Ihre Atmung, Verdauung und andere automatischen Körperfunktionen in Gang hält. Vielleicht haben Sie davon unter der Bezeichnung »Reptiliengehirn« oder »Eidechsengehirn« gehört. Es arbeitet hart, um Sie am Leben zu erhalten.
Das limbische System besteht aus den Gehirnbereichen, die für Emotionen, Motivation, Verhalten und Gedächtnis zuständig sind. Das limbische System verbindet uns mit anderen, stellt sicher, dass wir aus vergangenen Erfahrungen lernen, und arbeitet hart für unsere Sicherheit. Alle Säugetiere haben ein limbisches System.
Der Teil des limbischen Systems, der Alarm schlägt, wenn uns Gefahr droht, ist die Amygdala. Sobald die Amygdala zum Alarm bläst – »Gefahr, Gefahr, Pass auf!« – wird das sympathische Nervensystem aktiviert und mobilisiert Sie zur Verteidigung durch Kämpfen, Weglaufen (Flucht) oder Verstecken (Starre). Stresshormone und Neurotransmitter überfluten den Körper: dazu bestimmt, Ihr Leben zu retten. Die Amygdala kann die Gefahr nicht einschätzen. Ihre Aufgabe besteht nur darin, beim kleinsten Hinweis auf ein Problem, Alarm zu schlagen. Sobald Sie also einen lauten Krach hören, sind Sie schon halb aus dem Sessel, bevor Sie überhaupt zu denken anfangen.
Die Amygdala tut immer ihr Bestes, damit Sie in Sicherheit sind, aber manchmal kommt es zu Überreaktionen, wenn sie etwas als Bedrohung einordnet, was keine ist. Während es zwar sinnvoll ist, dass die Amygdala ein Signal an den präfrontalen Kortex sendet, um noch einmal bewusst zu überprüfen, ob wirklich Gefahr besteht, ergibt es keinen Sinn, alle Verteidigungsregister zu ziehen, wenn Ihre Dreijährige trotzt. In diesem Fall ist wahrscheinlich eine Portion Humor – eine Spezialität des präfrontalen Kortexes – die beste Verteidigung.
Der zerebrale Kortex ist der bewusste oder »denkende« Teil des Gehirns. Er schließt den präfrontalen Kortex mit ein, den wir uns als die Exekutivfunktion oder Kommandozentrale des Gehirns vorstellen können. Der präfrontale Kortex kommuniziert mit dem übrigen Gehirn, um alle hereinkommenden Informationen zusammenzustellen, zu beurteilen, ob eine Gefahr real ist, und zu beschließen, wie sie am besten beantwortet werden soll. Beispielsweise mag er entscheiden, dass es sich bei dem lauten Krach um die Fehlzündung eines Autos und keinen Schuss gehandelt hat, also können Sie sich wieder in Ihren Sessel setzen.
In diesem Moment signalisiert der präfrontale Kortex dem Vagusnerv, Ihren Körper zu beruhigen. Der Vagusnerv, der dem Hirnstamm entspringt und sich durch den ganzen Körper zieht, ist der Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems und hat die Aufgabe, die Kampf-Flucht-Reaktion des Körpers zu beruhigen und Herztätigkeit, Atmung und andere physiologische Funktionen wieder in ihren Optimalzustand zu bringen. Ist Ihr vagaler Tonus stark – das heißt, der Vagusnerv reagiert schnell – dann fällt es dem Körper leichter, sich nach Stress wieder zu beruhigen. (Ein starker vagaler Tonus wird ebenfalls mit optimaler körperlicher Gesundheit verbunden, einschließlich verminderter Entzündungsneigung.)
Ihr Werkzeugkasten zur Neuverdrahtung.
Sie kennen bereits das erste Werkzeug für die Neuverdrahtung Ihres Gehirns, das in der Aktivierung der Pausentaste Stopp-lass-los-atme besteht. Wenn Sie neben den weiteren Werkzeugen und Übungen in diesem Buch »Stopp-lass-los-atme« als neue Gewohnheit einführen, wird das die Tendenz der Amygdala zur Überreaktion verringern und den Vagusnerv kräftigen, sodass Sie sich in Zukunft schneller beruhigen können.23
Die vorherige Übung »Ihre automatische Reaktion unterbrechen«, verändert und ersetzt Ihre gewohnte Programmierung (beispielsweise schreien oder essen Sie vielleicht normalerweise, wenn Sie verstimmt sind) durch eine neue Alternative (beispielsweise Ihre Sorge mit jemandem teilen und um Hilfe bitten). Jedes Mal, wenn Sie auf diese andere Weise agieren, verknüpft sich das Gehirn neu, damit diese Wahl in Zukunft wahrscheinlicher wird.
Wenn wir über ein vergangenes Ereignis, das uns verstimmt hat, von der Warte des Geliebtseins und des Liebens nachdenken, dann entwickelt sich der präfrontale Kortex weiter, der uns hilft, vergangene Ereignisse zu verarbeiten und zu integrieren.24 Deshalb bekommen Sie von mir eine Übung, um sich von früher Gelerntem, das Ihnen nicht länger dienlich ist (zum Beispiel die Überzeugung, Sie seien nicht gut genug), zu trennen und es durch eine neugewonnene Erkenntnis zu ersetzen. (Sie sind mehr als gut genug, genauso wie Sie sind.) Zusätzlich habe ich im späteren Abschnitt des 1. Teils »Trauma heilen« eine Tagebuchübung zur Weiterentwicklung des präfrontalen Kortex für Sie.
Eine weitere Praxis, mit der Sie im Teil 2 »Verbundenheit ist das Geheimnis glücklicher Elternschaft« beginnen, ist das Kultivieren von Empathie. Das wird Ihnen nicht nur dabei helfen, eine tiefere Verbundenheit zu Ihrem Kind herzustellen (und wahrscheinlich auch zu Ihrer Partnerin / Ihrem Partner und anderen Menschen), sondern das Kultivieren positiver Emotionen lässt auch das Niveau der Hormone und Neurotransmitter im Körper ansteigen, die Ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbefinden vermitteln.
Schließlich zeigen Tausende von Studienergebnissen, dass Meditation, die Sie sich als eine Art »Gehirntraining« vorstellen können, das Gehirn neu verknüpfen kann, Angst und Depression verringert und die Fähigkeit des Gehirns, zu Gelassenheit zurückzukehren, verbessert. Achtsamkeitsmeditation, einschließlich Körper-Scan und Fokussierung auf den Atem, fördert ebenfalls die Entwicklung des präfrontalen Kortex.26 Die Liebende-Güte-Meditation fördert das Mitgefühl, verändert, wie wir uns in Beziehungen mit anderen verhalten und erhöht das Wohlbefinden.27 Bereits acht Wochen engagierte Praxis der Achtsamkeitsmeditation28 kann die Amygdala beträchtlich zum Schrumpfen bringen. Daher ermutige ich Sie, zumindest mit einer kurzen täglichen Meditation oder Achtsamkeitsübung zu beginnen. Wir widmen uns dem Thema ausführlicher im Abschnitt über Achtsamkeit in Teil 1.
Heute in drei Monaten werden Sie merken, dass Sie
in diesen schwierigen Situationen nicht mehr so häufig
getriggert werden und sich schneller beruhigen. Auch
werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass Sie im
Allgemeinen ruhiger und weniger gestresst sind. Wenn
weniger Stresshormone im System zirkulieren, heißt das,
dass Ihr Körper weniger vom Sympathikus und dafür
mehr vom Parasympathikus gesteuert wird. Also
wird