Hier möchte ich auch die Beiträge der Wissenschaftler würdigen, auf deren Schultern wir in der Interpersonellen Neurobiologie stehen. Ihre Arbeit schafft die Grundlagen für uns, um eine interdisziplinäre Sicht des Geistes, des Gehirns und der Beziehungen zu entwickeln. Dadurch können wir versuchen, neue Wege zu finden, um den Geist zu definieren und mehr Wohlbefinden in die Welt zu bringen. Die Entdeckung universeller Prinzipien, übergreifend über viele Wissenschaftsbereiche, ist eine spannende Herausforderung im Kern dieses Ansatzes. Dabei können wir die Übereinstimmungen entdecken, die entstehen, wenn normalerweise unabhängige Forschungsgebiete zusammen untersucht werden. Ich hoffe, Sie werden zu dem Schluss kommen, dass diese Anstrengung Früchte getragen hat. Auch hoffe ich, dass Sie und all die anderen Menschen in den vielen Bereichen Ihres Lebens von unseren gemeinsamen Anstrengungen profitieren werden.
Einleitung
„Wenn wir reisen, sind wir alle Fremde. Ob wir in ein anderes Land reisen oder unsere eigene Stadt oder unser eigenes Land erforschen, oft kommen wir in Gebiete, die so unbekannt sind, dass unser Bezugsrahmen nicht mehr angemessen ist. Wir brauchen Orientierung. Nicht nur um Angriffe und Gefahren zu vermeiden, sondern auch, um unsere Erfahrungen reicher, tiefer und freudvoller zu machen.“ So beginnt das Vorwort von Travellers’ Tales, das ich in einem alten Buchladen am Ufer der Seine in den Händen halte. Ich war in Paris, auf der Suche nach einem Ort in Frankreich für einen Think Tank, den wir für eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern aus Asien, Europa und den USA veranstalten wollten. In dem Think Tank sollte es um die Erforschung des Geistes und der mentalen Gesundheit gehen. In diesem Laden, dem ältesten englischen Buchladen in dieser pulsierenden Hauptstadt, bereitete ich mich darauf vor, für Sie ein Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie zu schreiben (ein Forschungsgebiet, das wir manchmal mit den Buchstaben IPNB abkürzen).
Ich war auf einer vierwöchigen Reise, die mich von Kalifornien aus ostwärts geführt hatte. Unterwegs hatte ich in Colorado und New York gelehrt, mich in Paris mit einem Philosophen/Physiker/Arzt getroffen und dabei nach einem zentralen, gut erreichbaren Ort, an dem sich Wissenschaftler aus aller Welt treffen können, gesucht. Inmitten all dessen fand ich nun das Buch Travellers’ Tales von O’Reilly, Habegger und O’Reilly, das in einer Perspektive geschrieben ist, die wir alle einnehmen sollten – etwa während unserer Reise mehr „Spaß“ zu haben:
„Es gibt vielleicht keine Stadt, die erhebender auf den menschlichen Geist wirkt [als Paris]. Dieser Ort ermöglicht es Ihnen, die Dimensionen Ihres Selbst oder die Dimensionen eines geliebten Menschen zu erfahren – ein Ort zum gehen und reden, an dem man über das Leben diskutieren und die Ereignisse der menschlichen Geschichte kontemplieren kann, die sich auf diesen Straßen, an den Ufern dieses Flusses, ereignet haben.
So sehr die Stadt des Lichtes auch von Tradition und Kultur geprägt sein mag, so hat sie doch Millionen von Menschen das Geschenk der strahlenden Gegenwärtigkeit gemacht. Eine Erfahrung oder einen Moment, in dem alles Leben verdichtet ist, über den man noch Jahre danach nachdenken wird. Paris ist ein Ort, an dem wir uns besonders lebendig fühlen, und die Stadt ist hier und jetzt für Sie da. Sie wartet darauf, dass Sie ihre Schätze entdecken und sie zu Ihren eigenen machen.“1
So lassen Sie uns unsere Reise in die Interpersonelle Neurobiologie in dieser Stadt beginnen … Ich hoffe, wir werden auf eine Weise reisen, die für den Geist erhebend sein wird, während Sie dazu eingeladen sind, sich selbst und andere besser zu verstehen. Wir werden die weitreichenden Erkenntnisse vieler Forschungsgebiete erläutern, die versuchen, die Natur der inneren und äußeren Wirklichkeiten zu verstehen. Zugleich werden wir tief in die Einsichten des gegenwärtigen Moments eintauchen.
Ein kurzer historischer und konzeptueller Hintergrund
Viele Forschungsgebiete haben die Natur des mentalen Lebens untersucht – von der Psychologie bis zur Philosophie, von der Literatur bis zur Linguistik. Nie aber wurde ein gemeinsamer Rahmen geschaffen, in dem all diese wichtigen Perspektiven wertgeschätzt und integriert werden können, ein Rahmen, in dem Menschen auf der Suche nach kollektiver Weisheit Antworten auf die Grundfragen des Lebens finden können. Diese Suche hat unsere Spezies jahrhundertelang umgetrieben. Was ist der Sinn des Lebens? Warum sind wir hier? Warum wissen wir überhaupt etwas? Warum können wir uns unserer selbst bewusst sein? Was ist ein Gedanke oder ein Gefühl? Was ist der Geist? Was macht den Geist gesund oder krank? Und in unserer modernen Welt können wir sogar fragen: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist, dem Gehirn und unseren Beziehungen, die wir miteinander und mit diesem Planeten teilen, auf dem wir alle leben?
Als Schüler in der Highschool und später als Student am College haben mich diese menschlichen Grundfragen sehr fasziniert. Tagsüber studierte ich Biochemie und erforschte den Stoffwechsel der Fische und abends arbeitete ich bei einer Notfallhotline für Selbstmordgefährdete. Schon damals hatte ich die Sehnsucht, einen Weg zu finden, um die Kraft der objektiven Wissenschaft mit der zentralen Bedeutung unseres subjektiven inneren Lebens zu verbinden. Im Labor untersuchte ich die Moleküle, die es Lachsen ermöglichen, sich sicher vom Frischwasser ins Salzwasser zu begeben. Konnte dieses Phänomen mit der ebenso wichtigen Tatsache in Verbindung stehen, dass die Art und Weise, wie wir in einer Krise mit einem anderen Menschen kommunizieren, Leben oder Tod bedeuten kann? Meine ärztliche Ausbildung hatte ich mit der Neugier begonnen, die wechselseitigen Verbindungen zwischen der Wissenschaft und der Subjektivität zu erforschen – die verschiedenen Wege, wie wir die Wirklichkeiten unseres Lebens erkennen können. Dabei stellte ich fest, dass die verschiedenen Teilbereiche der Medizin, die bestimmte Systeme des Körpers untersuchen, nicht gut miteinander kommunizierten. Eine Internistin konnte beispielsweise die Organe des Körpers sehr genau kennen, doch sie kommunizierte nicht gut mit dem Chirurgen, der einem Eingriff an ihrem Patienten vornehmen sollte. Ein Kinderarzt konnte einem Kind helfen, aber ihm wurde nicht beigebracht, auf welche Weise die psychische Erkrankung eines Elternteiles die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst haben könnte. Auch während meines eigenen Studiums behandelten viele unsere ansonsten guten Lehrer ihre Patienten so, als ob sie kein Zentrum der inneren Erfahrung hätten – keinen subjektiven inneren Kern, den wir unser mentales oder psychisches Leben nennen können. Es war so, als wären wir nur ein Gefäß, das chemische Substanzen und Körperorgane enthält, aber ohne ein Selbst, ohne einen Geist ist. Ich ließ mein Studium ruhen und verbrachte ein Jahr mit Reisen und einer inneren Suche. Als ich mich dann entschloss, meine medizinische Ausbildung fortzusetzen, dachte ich zum ersten Mal darüber nach, mich der Psychiatrie zu widmen.
Damals, in den frühen 1980er Jahren, befand sich der Bereich der Medizin, der sich mit psychischen Krankheiten befasste, im Krieg mit sich selbst. Aufgrund der historisch begründeten Unstimmigkeiten zwischen den Allgemeinärzten, den Psychiatern, die vor allem mit Medikamenten behandelten, und den Psychoanalytikern, stand das ganze Forschungsgebiet unter starker Spannung. Als Student lernte ich diese verschiedenen Lager kennen und war erstaunt, wie wenig Zusammenarbeit oder Respekt es zwischen ihnen gab. Ich wählte dann stattdessen die Kinderheilkunde als Spezialgebiet, musste aber schnell feststellen, dass meine Begeisterung für Themen, die sich auf das Leben des Geistes bezogen, ungebrochen war, und begann daher schließlich – trotz der vielen Spannungen und Unstimmigkeiten, die in diesem Forschungsgebiet herrschten, – mit der Ausbildung zum Psychiater. Zum Ende meiner klinischen Ausbildung – erst in der Behandlung von Erwachsenen und später auch in der von Kindern und Jugendlichen – war ich unzufrieden über das, was ich lernte – oder genauer gesagt, über das, was ich nicht lernte. Ich hatte das Gefühl, dass wir die Diagnose und Behandlung von Störungen beigebracht bekamen, aber dass wenig darüber gesprochen wurde, was Gesundheit schafft oder was Gesundheit eigentlich ist. Das war damals der allgemeine Stand der Ausbildung, nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in den anderen Fachbereichen der Psychologie und mentalen Gesundheit.