Abkoppelung ist ein Begriff, den ich verwende, um einen Mangel an bewusstem Kontakt mit unseren eigenen Gedanken und Gefühlen zu beschreiben. Wenn wir nicht in der Lage sind wahrzunehmen, wie wir denken oder was wir fühlen, dann fehlt uns Selbstgewahrsein. Dann ist es viel schwerer, unser Verhalten auf eine geeignete Weise zu verändern. Wir neigen zu emotionaler Deregulation und impulsivem, reaktivem oder achtlosem Verhalten.
Üblicherweise sehen wir alle drei Formen unflexibler Aufmerksamkeit – Ablenkbarkeit, Distanzieren und Abkoppelung von Gedanken und Gefühlen – nicht nur bei Klientinnen mit einer Depression, sondern im Zusammenhang mit allen therapeutischen Themen.
Werteferne
Wenn unser Verhalten zunehmend durch die Fusion mit nicht hilfreichen Gedanken oder durch Versuche bestimmt wird, unangenehme private Erfahrungen zu vermeiden, verlieren wir den Kontakt zu unseren Werten oder wir vernachlässigen bzw. vergessen sie. Und wenn wir uns über unsere Werte nicht im Klaren und seelisch nicht in Kontakt mit ihnen sind, können sie uns nicht als Orientierungshilfe für unser Handeln dienen. Depressive Menschen zum Beispiel verlieren häufig die Verbindung zu ihren Werten rund um Fürsorglichkeit, Verbundenheit mit anderen, Beteiligung am Gemeinschaftsleben, Produktivität und Hilfsbereitschaft, Selbstfürsorge, Spaß am Spielen, Intimität, Zuverlässigkeit und so weiter.
Ein Ziel der ACT ist, das Verhalten zunehmend von Werten statt von Fusion bzw. Vermeidung leiten zu lassen. Nehmen Sie wahr, welchen Unterschied es ausmacht, aus welchem der drei folgenden Gründe Sie sich auf den Weg zur Arbeit begeben:
• Die Motivation ist die Fusion mit Überzeugungen wie: »Ich muss diesen Job machen. Für etwas anderes bin ich nicht geeignet.«
• Die Motivation ist Erlebnisvermeidung: arbeiten gehen, um sich »nicht wie ein Versager zu fühlen«, oder unangenehmen Gefühlen angesichts von Spannungen zu Hause zu entgehen.
• Die Motivation sind Werte wie Fürsorglichkeit, Verbundenheit und der Wert, der darin liegt, einen Beitrag zu leisten.
Welche Art von Motivation verleiht wohl am ehesten ein Gefühl von Vitalität und Funktionsfähigkeit?
Unzweckmäßiges Handeln
Der Ausdruck »unzweckmäßiges Handeln« (oder »Wegbewegungen«) beschreibt Verhaltensmuster, durch die wir uns von einem achtsamen, werteorientierten Leben entfernen. Solche Handlungen sind impulsiv, reaktiv oder automatisch und stehen damit im Gegensatz zu achtsamem, überlegtem und engagiertem Handeln. Unzweckmäßiges Handeln ist beständig von Fusion und Erlebnisvermeidung motiviert (statt von Werten) oder gerade dort von Handlungsvermeidung bzw. Handlungsverzögerung, wo effektives Handeln geboten wäre. Bekannte Beispiele für unzweckmäßiges Handeln in depressiven Phasen (und bei vielen anderen Störungen) sind unter anderem Medikamentenmissbrauch oder übermäßiger Alkoholkonsum, sozialer Rückzug, Aufgabe zuvor geliebter Tätigkeiten, Arbeitsvermeidung, übermäßiges Schlafen oder Fernsehen, übermäßiges Spielen (am Computer oder Glücksspiel) und Suizidversuche.
Fusion mit dem Selbstkonzept
Wir alle wissen eine Geschichte darüber zu erzählen, wer wir sind. Diese Geschichte ist komplex und vielschichtig. Sie enthält einige objektive Fakten wie Name, Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf und so weiter. Sie enthält darüber hinaus Beschreibungen und Bewertungen unserer Rollen, unsere Stärken und Schwächen, Vorlieben und Abneigungen, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte. Nehmen wir unsere Geschichte leicht, kann sie uns helfen zu bestimmen, wer wir sind und was wir wollen.
Wenn wir aber mit unserem Selbstkonzept verschmelzen, scheint es so, als wären alle diese Gedanken, mit denen wir uns beschreiben, die Essenz dessen, wer wir sind. Wir verlieren die Fähigkeit, zurückzutreten und zu sehen, dass dieses Selbstkonzept nicht mehr oder weniger als eine komplexe kognitive Konstruktion ist, ein reiches Gewebe aus Worten und Bildern. (Viele Bücher über ACT bezeichnen so eine Fusion mit dem etwas verwirrenden Begriff »self-as-content« (»Selbst als Inhalt«) oder des »konzeptualisierten Selbst« (Wengenroth, 2017, 175).
In einer Depression verschmelzen Klienten im Allgemeinen mit einem sehr negativen Selbstkonzept: »Ich bin schlecht/wertlos/ein hoffnungsloser Fall/nicht liebenswert« und so weiter. Ein Selbstkonzept kann aber auch »positive« Elemente enthalten – zum Beispiel »Ich bin stark, Ich sollte nicht so reagieren oder Ich bin ein guter Mensch, warum passiert mir das?«.
FÜR WEN IST ACT GEEIGNET?
Therapeutinnen fragen mich häufig: »Für wen ist ACT geeignet?« Meine Antwort lautet: »Können Sie sich jemanden vorstellen, für den ACT nicht geeignet ist?« Wer würde nicht davon profitieren, psychisch präsenter zu sein, mehr mit seinen Werten in Kontakt zu sein? Dem unvermeidliche Schmerz des Lebens mehr Raum zu geben? Mehr Abstand zu nicht hilfreichen Gedanken, Überzeugungen und Erinnerungen haben zu können? Mehr in der Lage zu sein, angesichts von Dingen, die emotional unangenehm sind, effektiv zu handeln? Sich voller in dem zu engagieren, was man tut und jeden Moment seines Lebens mehr wertzuschätzen, gleich wie es einem geht? Psychische Flexibilität hat alle diese guten Wirkungen und mehr. ACT scheint daher praktisch für jeden Menschen relevant zu sein.
Bei Menschen, deren Fähigkeit zur Nutzung von Sprache aufgrund von Autismus, erworbener Hirnschäden oder sonstiger Behinderungen deutlich eingeschränkt ist, ist ACT unter Umständen jedoch nur von begrenztem Nutzen. Für solche Menschen bietet die RFT (Bezugsrahmentheorie) jedoch diverse hilfreiche Anwendungen.
ACT ist wissenschaftlich erforscht worden und hat sich unter anderem bei Depressionen, Ängsten, Zwangsstörungen, sozialer Phobie, generalisierter Angststörung, Schizophrenien, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Stress am Arbeitsplatz, chronischen Schmerzen, Drogenkonsum, psychischer Bewältigung einer Krebserkrankung, Epilepsie, Gewichtskontrolle, Raucherentwöhnung und Selbstmanagement bei Diabetes bewährt. (Bach & Hayes, 2002; Bond & Bunce, 2000; Branstetter, Wilson, Hildebrandt & Mutch, 2004; Brown et al., 2008; Dahl, Wilson & Nilsson, 2004; Dalrymple & Herbert, 2007; Gaudiano & Herbert, 2006; Gifford et al., 2004; Gratz & Gunderson, 2006; Gregg, Callaghan, Hayes & Glenn-Lawson, 2007; Hayes, Bissett et al., 2004; Hayes, Masuda et. al., 2004; Lundgren, Dahl, Yardi & Melin, 2008; Ossman, Wilson, Storaasli & McNeill, 2006; Tapper et al., 2009; Twohig, Hayes & Masuda, 2006; Zettle, 2003).
Aufgaben
Ich werde dieses Kapitel mit einer Übung in Fallkonzeptualisierung schließen, um Sie mit der Denkweise dieses Modells vertraut zu machen.
• Stellen Sie sich einen Ihrer Klienten vor und finden Sie Beispiele für die sechs pathologischen Kernprozesse, die in diesem Kapitel beschrieben werden. Sie sehen, dass sie sich alle überschneiden. Nutzen Sie dazu das als Zusätzliches Material erwähnte Arbeitsblatt.
• Wenn Sie mit einem Stichwort nichts anfangen können, gehen Sie einfach zum nächsten über. Und bedenken Sie, dass sich die einzelnen Prozesse erheblich überschneiden. Falls Sie sich also fragen, ob bei einem bestimmten Verhalten Fusion oder Vermeidung vorliegt, dann ist es wahrscheinlich beides. Halten Sie es in diesem Fall unter beiden Stichworten fest. Diese Übung dient lediglich dazu, Sie mit der Arbeit vertraut zu machen. An späterer Stelle in diesem Buch werde ich noch näher auf die Fallkonzeptualisierung eingehen. Fangen Sie jetzt einfach einmal an, um zu sehen, wie es läuft.
• Noch besser ist es, diese Übung anhand von zwei, drei Klientinnen vorzunehmen, da Übung bekanntlich den Meister macht.
• Wollen Sie diesen psychopathologischen Ansatz noch eingehender kennenlernen, bietet es sich an, zwei oder drei Störungen nach DSM-5 (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5) auszuwählen und herauszufinden, was Fusion, was Vermeidung und was unzweckmäßiges Handeln ist: Mit welcher Art kognitivem Inhalt verschmelzen Menschen mit diesen Störungen (im Hinblick auf Vergangenheit, Zukunft, Selbstkonzept, Gründe, Regeln und Wertungen)? Welche Gefühle, Neigungen, Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen wollen sie aktiv vermeiden oder nicht haben? Welche unzweckmäßigen Handlungsrichtungen schlagen sie gewöhnlich ein? Zu welchen Grundwerten haben sie die Verbindung verloren? Welche Form von Ablenkbarkeit, Distanzierung und Abkoppelung sind verbreitet?
• Führen Sie die Übung nicht