Einer der zahlreichen Indikatoren, die in letzter Zeit darauf hindeuten, dass Achtsamkeit auf weitreichende Weise in den Mainstream übergeht, ist die Tatsache, dass der Historiker Yuval Noah Harari im letzten Kapitel seines Buches »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« über Achtsamkeit spricht.3 Darin enthüllt er, dass er seit einem zehntägigen Retreat im Jahre 2000 jeden Tag meditiert und dazu jedes Jahr an einem intensiven Schweige-Retreat von ein- oder zweimonatiger Dauer teilnimmt (bei dem Bücher und Social Media nicht erlaubt sind).4 Das allein sagt schon viel aus. Nachdem er uns zwei erstaunlich populäre, tiefschürfende, provokative und scharfsinnige Bände vorgelegt hat, in denen er die Geschichte der menschlichen Grundsituation beschreibt5 sowie die Herausforderungen, denen wir als Spezies in naher Zukunft gegenüberstehen (manches davon ziemlich erschreckend),6 destilliert sein jüngstes Buch, ebenfalls ein Bestseller, aus diesen akademischen Studien einundzwanzig zentrale Lektionen für die Gegenwart. Ich fand es enorm aufschlussreich und ermutigend, dass Harari, der so viele verschiedene Themenstränge aus der Geschichte gekonnt miteinander verwebt, um aufzuzeigen, welche enormen Herausforderungen auf unsere Spezies warten, sich in seinem eigenen Leben ganz bewusst die nüchterne Disziplin der Achtsamkeitsmeditation zu eigen gemacht hat und diese als ein zwar etwas utopisch anmutendes, aber vielleicht unverzichtbares Element unserer Entwicklung benennt, wenn wir als Spezies den künftigen Umgang mit den neuen Herausforderungen, die von der Informations- und der Biotechnologie herbeigeführt werden, geschickt einfädeln wollen – Herausforderungen, die er detailliert und ziemlich ernüchternd beschreibt.
Als die »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« am 9. September 2018 auf dem Titel der sonntäglichen »New York Times Book Review« unter der Überschrift »Thinking big« von Bill Gates besprochen wurden,7 denn Harari ist nun wirklich ein tiefschürfender und kreativer Denker und Lieferant historischer Synthesen, fragt Gates:
»Was meint nun Harari, was wir angesichts all dessen tun sollten? [D. h., angesichts der riesigen von Harari aufgezählten Herausforderungen, die uns als Spezies heute erwarten.] Das Buch ist gespickt mit praktischen Ratschlägen, darunter einer Dreifach-Strategie für den Kampf gegen den Terrorismus und ein paar Tipps, wie man mit Fake News umgeht. Aber seine ganz große Idee läuft auf eines hinaus: Meditiert! Natürlich will er damit nicht sagen, die Probleme der Welt würden verschwinden, wenn genügend Leute den Lotussitz einnehmen und OM summen. Aber er besteht darauf, dass das Leben im 21. Jahrhundert Achtsamkeit erfordert – dass wir uns selber besser kennenlernen und sehen, wie wir das Leid in unserem Leben selber erzeugen. Darüber kann man sich natürlich lustig machen, aber als jemand, der selbst einen Achtsamkeits- und Meditationskurs gemacht hat, finde ich es sehr überzeugend.«
Das ist eine bemerkenswerte Aussage, vor allem aus dem Mund von Bill Gates. Offensichtlich versteht er die Kraft der Achtsamkeit von innen heraus.
*
Ich würde die Grundaussage dieses Buches folgendermaßen umreißen: Bevor wir angesichts dessen, was sich am Horizont abzeichnet – künstliche Intelligenz, intelligente Roboter und die Aussicht auf digital, wenn nicht sogar biologisch aufgerüstete Menschen und vieles mehr, das Harari detailliert beschreibt – unser Menschsein aufgeben, täten wir vielleicht gut daran, erst einmal gründlich zu erforschen, was es heißen und wie es sich anfühlen könnte, voll und ganz Mensch zu sein, also ganz und gar hellwach und im Körper anwesend zu sein. Das ist sowohl der Appell als auch die Herausforderung dieses Buches (und aller vier Bände dieser Reihe). Aber es lädt Sie zu einer sehr persönlichen Form des Engagements ein, in dem Sinne, dass jede und jeder von uns nicht nur sich selbst, sondern auch der Welt gegenüber eine Verantwortung hat, durch das regelmäßige Kultivieren von Achtsamkeit – als Meditationspraxis und als eine Art zu leben – die eigene innere und äußere Arbeit zu tun und dadurch, so gut es uns möglich ist, die volle Dimensionalität unseres Seins und ihr Repertoire an Potenzialen hier und jetzt zu erkennen und zu bewohnen.
Weil die Grundelemente der universellen, auf Achtsamkeit und Meditation gegründeten Dharma-Perspektive, auf die ich mich beziehe, in den Weisheitstraditionen jeder menschlichen Kulturform zu finden sind, ist Achtsamkeit von vornherein inklusiv und fähig, Kommunikationsbarrieren zu beseitigen und gemeinsame Ziele zu entdecken, statt Zwietracht zu säen. Es gibt nicht den »einzig richtigen« Weg, sie zu kultivieren, und keinen Katechismus, kein Glaubenssystem, das man übernehmen muss. Darüber hinaus entwickelt sich diese neu entstehende Weisheits-Perspektive durch uns ständig weiter: dadurch, wie wir unser Leben führen und unsere ganz realen Herausforderungen und Chancen angehen. Sie reflektiert, was in uns Menschen – in unserer Vielfalt, aber auch in dem, was wir gemeinsam haben – immer schon das Tiefste und Beste gewesen ist.
Den eigenen Körper und Geist zum Freund machen: eine universelle Meditationspraxis
Natürlich muss die Art von Weisheit, über die wir sprechen, auf eine kontinuierliche Kultivierungsarbeit gegründet sein, und das heißt: auf irgendeine Form von Praxis, von der sie gefördert, gestärkt und vertieft wird. Denn Achtsamkeit ist nicht Achtsamkeit, wenn sie nicht gelebt wird. Und das heißt: leibhaftig verkörpert wird. Wer das auf diese Weise unternimmt, tut es nach bestem Vermögen – nicht als Ideal, sondern als kontinuierliche und sich ständig weiter entfaltende Art zu leben.
Warum?
Weil Achtsamkeit nicht einfach nur eine gute Idee ist, eine nette Philosophie, ein Glaubenssystem, ein Katechismus. Sie ist eine anspruchsvolle, universell anwendbare Meditationspraxis – universell deshalb, weil man Bewusstheit an sich, über alle Kulturen hinweg, als letztendlichen gemeinsamen Nenner unserer Menschlichkeit betrachten kann. Wenn alles gesagt ist, ist Achtsamkeit eine Art des Seins, eine Art und Weise, in Bezug auf das eigene Erleben da zu SEIN. Von Natur aus erfordert sie von uns als Individuen eine kontinuierliche Schulung und Förderung, wenn uns etwas daran liegt, als freie Menschen das Leben voll und ganz zu leben, und letztlich dies auch als solidarische und mitfühlende Gesellschaft tun wollen. Genauso, wie Musikerinnen ihre Instrumente regelmäßig vor jedem Konzert – und manchmal auch währenddessen! – immer wieder neu und exakt stimmen müssen, können wir uns Achtsamkeit als eine Art und Weise vorstellen, das Instrument der eigenen Aufmerksamkeit zu stimmen und zu »be-stimmen«, in welche Beziehung man zur eigenen Erfahrung treten will – jeder Erfahrung, aller Erfahrung. Egal, welches Niveau Sie als Musiker erreicht haben – stimmen müssen Sie Ihr Instrument immer. Und je versierter Sie als Musikerin sind, desto mehr müssen Sie üben. Es ist ein positiver »Teufelskreis«.
Sogar die genialsten Musiker und Musikerinnen üben. Wahrscheinlich sogar mehr als alle anderen. Allerdings gibt es bei der Achtsamkeit keine Trennung zwischen »Probe« und »Auftritt«. Warum? Weil es keinen Auftritt gibt und auch keine Probe. Es gibt nur den jetzigen Moment. Mehr wird es nicht. Man kann Bewusstheit nicht »verbessern«. Was wir durch die Praxis der Achtsamkeit kultivieren, ist ein breiterer Zugang zu, eine größere Vertrautheit mit unserer angeborenen Fähigkeit zur Bewusstheit – und die Fähigkeit, in diesem Bereich des Seins sozusagen einen ständigen Wohnsitz einzurichten, als Heimatbasis, aus der all unser Tun hervorfließt.
Viele Türen, ein Raum: Vielfalt und Inklusion sind oberstes Gebot
Die Praxis der Achtsamkeit (und wie sie sich in größerem Maßstab in der Welt manifestiert) muss so vielfältig sein wie die Interessengruppen, von denen sie verbreitet, betrieben, verkörpert und genutzt wird – von jeder auf eigene Art, genauso wie die Musik, die von der Menschenfamilie gespielt und genossen wird, zutiefst unterschiedlich ist, ein veritables Universum