Michael wusste seit unserer ersten Therapiesitzung, dass er arbeitssüchtig war. Ihm war sogar bewusst, dass er seine Familie genauso vernachlässigte, wie er von seinem Vater vernachlässigt worden war. Aber er fühlte sich hilflos und konnte nicht verhindern, dass sich dieses Leid von einer Generation auf die nächste übertrug. Doch als er den Schmerz über die drohende Scheidung fühlte, kam etwas in Bewegung. Michael gestand sich ein, wie leidvoll sein Leben geworden war, und er empfand einen Funken Mitgefühl – zuerst für seinen Vater und dann für sich selbst.
Suzanne warf Michael oft vor, sich nicht genügend um die beiden gemeinsamen Kinder zu kümmern. Aber hinter ihren Vorwürfen steckte ein Wunsch, der Müttern von kleinen Kindern vertraut ist: dass Michael, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, zuerst einmal ihr Aufmerksamkeit schenken und danach mit den Kindern spielen solle. Suzanne schämte sich für diesen Wunsch, denn sie hielt ihn für egoistisch und für den Beweis, dass sie keine gute Mutter war. Nachdem sie ihn aber als natürlichen Ausdruck ihres Bedürfnisses nach Nähe zu ihrem Mann erkennen konnte, war sie in der Lage, diesen Wunsch offener und selbstbewusster zu äußern. Und das machte es Michael wiederum viel leichter, darauf einzugehen.
Schon ein bisschen Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl half den beiden, ihre schwierigen Gefühle zu transformieren. In Beziehungen verbirgt sich hinter heftigen Gefühlen wie Scham und Wut oft ein großes ICH VERMISSE DICH! Es tut einfach weh und fühlt sich irgendwie nicht richtig an, sich mit den Menschen, die wir lieben, nicht verbunden zu fühlen.
Trotz der offenkundigen Unterschiede zwischen der Angst, vor Publikum zu sprechen, Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit und Beziehungskonflikten ist diesen Problemen normalerweise eines gemeinsam: der Widerstand gegen das Leid. Doch der Kampf gegen das, was uns unangenehm ist, macht alles nur noch schlimmer. Je mehr wir unsere Ängste oder körperlichen Beschwerden, die Schlaflosigkeit oder den Schmerz der Getrenntheit – und die damit verbundenen Selbstzweifel – annehmen können, desto besser sind wir dran.
Sie können diese Dynamik gewiss auch in Ihrem eigenen Leben beobachten. Wie erfolgreich ist Ihre Schlankheitskur, wenn Sie dabei extrem streng und selbstkritisch sind? Was geschieht, wenn Sie mit Ihrer Tochter im Teenageralter über deren neuen Freund streiten? Wo bleibt ihre Wut, wenn Sie sie unterdrücken? Einer meiner Kollegen witzelte einmal: „Wenn du etwas ablehnst, geht es in den Keller und trainiert Gewichtheben!“
Im schlimmsten Fall kann der Versuch, sich Schamgefühle zu ersparen, indem man andere verbal oder physisch angreift, Beziehungen oder ein ganzes Leben zerstören. Wenn wir zum Alkohol greifen, um Ängsten auszuweichen oder traumatische Erinnerungen auszublenden, können wir alles verlieren, was wir haben oder uns jemals erträumten. Die eigene Haut zu ritzen, um sich Erleichterung von emotionalem Schmerz zu verschaffen, löst gar nichts. Die Herausforderung besteht darin, sich den eigenen Schwierigkeiten mit urteilsfreiem Gewahrsein und Mitgefühl zuzuwenden.
Den Mittelweg finden
Es ist viel verlangt, sich unangenehmen Empfindungen zu öffnen. Als ich beschloss, mir zu erlauben, vor meinem Publikum zu zittern, musste ich mir erst einmal klar machen, was das wirklich bedeutet. Nicht nur darüber nachzudenken, sondern die Szene tatsächlich schaudernd zu durchleben: wie die Leute über mich lachen, sich gegenseitig auf meine armselige Vorstellung hinweisen und sich verächtlich abwenden. Nur so konnte ich sehen, dass mein Leben weitergehen würde, wenn ich ein lausiger Redner wäre. Es war eine Art Desensibilisierung: Ich gewöhnte mich in meiner Vorstellung daran. Glücklicherweise oder leider konnte ich dabei auch auf ein paar reale Erfahrungen zurückgreifen.
Manche Menschen können da einfach hineinspringen und ihr emotionales Leid annehmen. Andere brauchen mehr Zeit. Sich in dieses Wildwasser zu stürzen funktioniert bei einigen, aber die Bereitschaft dazu ist kein Hinweis auf besondere Tapferkeit – vor allem, wenn man nicht schwimmen kann. Man muss sich sicher und kompetent fühlen, wenn man diesen ersten Schritt auf den eigenen Schmerz zugeht.
Bei den meisten von uns löst die Vorstellung, sich dem eigenen emotionalen Schmerz zu öffnen, bestimmte Befürchtungen aus. Depressive Menschen fürchten vielleicht, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden und im Alltag nicht mehr funktionieren zu können. Menschen mit Angststörungen machen sich Sorgen, es könnte sie zurückwerfen und ihnen eine weitere Panikattacke bescheren, die sie so schnell nicht wieder vergessen würden. Traumatisierte Menschen erwarten, von schrecklichen Erinnerungen eingeholt zu werden, die sie tagsüber quälen könnten. Menschen, die in einer schwierigen Ehe ausharren, befürchten vielleicht, im Hinblick auf ihre Beziehung etwas verändern zu müssen, wenn sie sich erlauben, zu fühlen, wie schlimm es wirklich geworden ist. All das könnte tatsächlich passieren und wir müssen auf solche Dinge vorbereitet sein.
Der Sinn und Zweck dieses Buches ist, Ihnen das notwendige Wissen und die Fertigkeiten zu vermitteln, die Sie brauchen, um dem Leid aus einer Position der Stärke begegnen zu können. Eines kann Ihnen dieses Buch allerdings nicht geben: die Intuition, ob es für Sie zu einem bestimmten Zeitpunkt sicher ist, sich Ihrem Schmerz zu öffnen. Das müssen Sie selbst entscheiden. Wir alle sind empfindsame Wesen, auch wenn wir es nicht zeigen. Wir haben ein zartes Nervensystem. Lernen Sie, Ihrer Intuition zu trauen, um zwischen „Sicherheit“ und „Leiden“ zu unterscheiden. Sich verletzlich oder unwohl zu fühlen bedeutet nicht unbedingt, dass man nicht sicher ist: „Schmerz“ ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit „Schaden“. Wollen Sie Ihr Leben ganz leben, ist es wichtig, diesen Unterschied zu kennen.
Wir nehmen im Allgemeinen alle möglichen Unannehmlichkeiten in Kauf, um ein sinnvolles Leben zu führen. Ist es Ihnen beispielsweise wichtig, Kinder zu haben, werden Sie wahrscheinlich das Risiko einer schmerzhaften Geburt eingehen, um Ihren Traum zu verwirklichen. Weisheit ist, die kurz- und langfristigen Konsequenzen des eigenen Handelns zu erkennen und den Weg zu wählen, der den größten langfristigen Nutzen und Segen bringt. Trotz mancher Hindernisse seinen tiefsten Überzeugungen und Werten treu zu bleiben, ist weise, weil es uns langfristig glücklich macht.
Am besten ist es, einen „Mittelweg“ zu suchen zwischen der Konfrontation mit unseren emotionalen Problemen und dem Umgehen derselben. An einem Tag fühlen Sie sich vielleicht eher schwach und unfähig, sich Ihren Herausforderungen zu stellen. In diesem Fall können sie vielleicht warten. Stellen Sie sich vor, Sie sind im Skiurlaub. An manchen Tagen haben Sie vielleicht Lust, besonders schwierige Hänge zu bezwingen, und an anderen wollen Sie einfach nur in der Skihütte sitzen und heiße Schokolade schlürfen. Wenn Sie versuchen, einen steilen Hang hinunterzufahren, ohne innerlich bereit zu sein, könnten Sie einen Skiunfall haben. Bleiben Sie andererseits immer auf dem Anfängerhügel, werden Sie nie die Freude erleben, „es geschafft zu haben.“ Wenn Sie wählen können, sollten Sie neue Herausforderungen nur annehmen, wenn es Ihnen gut geht und Sie innerlich bereit sind. Geben Sie aber auch nicht auf!
Manche Leute fragen sich, wie Antidepressiva und angstlösende Medikamente in dieses Bild passen. Sind das nicht bloß Formen der Vermeidung, die emotionale Herausforderungen wegschieben oder verdecken? In manchen Fällen mag das zutreffen, aber im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass wir gar nicht in der Lage sind, an unseren Problemen zu arbeiten, wenn wir von Angst und Trauer überwältigt oder völlig verwirrt sind. Vermeidung ist gut, wenn sie uns hilft, wieder klarer zu sehen. In diesem Sinne können Medikamente das emotionale Leid wieder überschaubar machen. Manche Menschen können ihre Medikamente irgendwann mit Hilfe von Selbsthilfetechniken, wie sie auch in diesem Buch beschrieben werden, reduzieren.
Der menschliche Geist hat seine eigenen natürlichen Mechanismen, negativem Stress auszuweichen. Dazu zählen unsere „Verteidigungsstrategien“ wie „Verleugnung“, „Projektion“ und „Abspaltung“. Mit Abspaltung bezeichnet man gewöhnlich die Tendenz des menschlichen Geistes zum Schwarz-Weiß-Denken, wenn wir