Llewellyn Vaughan-Lee
Das Herzensgebet
Llewellyn Vaughan-Lee
Das Herzensgebet
Der direkte Weg ins göttliche Mysterium
Übersetzt von Sabine Reinhardt-Jost
© 2012 The Golden Sufi Center
© 2013 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiburg
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
The Prayer of the Heart in Christian & Sufi Mysticism
Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2020
Titelfoto: © 2013 plainpicture/Eva Z. Genthe
Hergestellt von mediengenossen.de
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Alle Rechte vorbehalten
E-Book 2020
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-330-3
Inhalt
Vorbemerkung
von Rev. Cynthia Bourgeault
Vorwort
Einführung
1 BETEN und LAUSCHEN
2 STUFEN des BETENS
3 DAS JESUSGEBET und der DHIKR
4 DER KREIS der LIEBE
5 DAS HERZ BETET
6 GEBET für die ERDE
7 PERSÖNLICHES GEBET
Anmerkungen
Bibliographie
Danksagung
Über den Autor
DIE LEITER DER GÖTTLICHEN GNADEN1
deren Erfahrung denen offenbart wird, die von Gott beseelt sind
Die erste Stufe ist die des reinsten Gebets.
Von dort kommt eine Wärme des Herzens,
Und dann eine seltsame, heilige Energie,
Dann Tränen, dem Herzen entwrungen, von Gott geschenkt.
Dann Friede von Gedanken aller Art.
Daraus entsteht die Läuterung des Intellekts,
Und daraufhin die Vision himmlischer Mysterien.
Nie dagewesenes Licht wird unbeschreiblich daraus geboren,
Und daraus, jenseits allen Berichtens,
Die Erleuchtung des Herzens.
Zuletzt kommt – eine Stufe, die grenzenlos ist,
Obwohl in einer Zeile umfasst –
Vollkommenheit, die endlos ist.
Gott, der Allmächtige, brachte die Schöpfung hervor und sagte:
„Vertraue Mir deine Geheimnisse an.
Tust du dies nicht, dann blicke zu Mir.
Tust du dies nicht, dann höre Mir zu.
Tust du dies nicht, dann warte an Meiner Tür.
Tust du nichts von alledem
Dann sage Mir wenigstens, was dir fehlt.“
SAHL2
VORBEMERKUNG
Gott, der Große Geliebte, ist weder männlich noch weiblich. Es hat sowohl eine göttliche männliche Seite wie auch eine Ehrfurcht gebietende weibliche Seite. Gott wird in diesem Buch jedoch in der männlichen Form bezeichnet, als Er. Das geschieht aus Gründen der Einheitlichkeit. In den christlichen mystischen Schriften der hl. Teresa von Avila und auch bei den hier zitierten Sufi-Autoren wird von Gott als Er gesprochen.
VORWORT
Es ist weitgehend bekannt, dass sich Thomas Merton, der große zeitgenössische christliche Mystiker, in der letzten Dekade seines Lebens stark zum Buddhismus hingezogen fühlte. Weniger bekannt ist, dass er ebenso, wenn nicht in gewisser Weise sogar noch intensiver, vom Sufismus angezogen wurde. Irgendwann in diesem Zeitraum war er zufällig auf Louis Massignons französischen Kommentar zu einer Abhandlung über das Herz von al-Hallāj, einem Sufi-Heiligen aus dem 9. Jahrhundert, gestoßen. Offenbar elektrisiert von dem, was er da gefunden hatte, bezog er sich wieder und wieder auf diesen Text, sei es in seinen zur Veröffentlichung gedachten Schriften wie auch in seinen Tagebüchern. Besonders gab Massignons Ausführung über den point vierge, diesen mysteriösen göttlichen Grund im Innersten des Herzens (bei den Sufis als sirr oder Geheimnis bekannt), den Anstoß zu Mertons bewegenden letzten Abschnitt seines Essays „Ein Mitglied des Menschengeschlechts“.
„Dann war es, als sähe ich plötzlich die geheime Schönheit ihrer Herzen, die Tiefe ihrer Herzen, wo weder Sünde noch Wunsch noch Selbsterkenntnis hingelangen können, den Kern ihrer Wirklichkeit…
Wieder kommt hier der Begriff le point vierge hinein (ich vermag ihn nicht zu übersetzen). Im Zentrum unseres Seins ist ein Punkt des Nicht-seins, der unberührt von Sünde und Illusion ist, ein Punkt reiner Wahrheit, ein Punkt oder Funke, der nur Gott gehört, über den wir nie Verfügung haben, von dem aus Gott über unser Leben verfügt, der unzugänglich ist für die Phantasien unseres Geistes oder die Brutalitäten unseres Willens. Dieser kleine Punkt des Nichtseins und der absoluten Armut ist die reine Herrlichkeit Gottes, eingeschrieben in uns als unsere Armut, als unsere Bedürftigkeit, als unsere Sohnschaft. Er ist wie ein reiner, hell im unsichtbaren Licht des Himmels strahlender Diamant. Er ist in jedem von uns, und wenn wir ihn nur sehen könnten, würden wir diese Milliarden Lichtpunkte im Antlitz und Glanz einer Sonne zusammenkommen sehen, die alle Dunkelheit und Grausamkeit des Lebens vollständig verschwinden ließe.“
Im Spiegel des Sufismus erfuhr Merton sein christliches Herz zutiefst erleuchtet.
Im Herzen sind Sufismus und Christentum verbunden, darüber gibt es kaum Zweifel. Ich selber bin für mich im Laufe meiner zwanzigjährigen Suche, die authentische Weisheitstradition des Christentums wieder aufzudecken, zu diesem Schluss gekommen. Im Verlauf dieser Reise habe ich von vielen Sufi-Lehrern, besonders von Llewellyn Vaughan-Lee, Unterweisung erhalten. Diese wundervollen Mentoren haben mir geholfen, den großartigen Pfad der Liebe im Herzen meiner eigenen christlichen Tradition wiederzufinden, in der er unauslöschlich gegenwärtig, jedoch oft durch eine theologisch unverständliche Sprache verborgen ist, die sich das Christentum sehr bald für seine Darstellung angewöhnt hat. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir oft eine Art des Weiterreiches vor, das historisch und politisch falsch sein mag, sich bei mir tief innen aber immer wieder wahr anfühlt: Während das institutionalisierte Christentum in jenen Jahrhunderten, die auf die Erhebung zur offiziellen Religion des Römischen Reiches folgten, immer dogmatischer und verklausulierter in seinem Ausdruck wurde, entwickelte sich in der Wiege des Islam der Sufismus und empfing und nährte diese Lehren über das Herz, die zuerst direkt vom lebendigen Herzen Jesu in jene Länder des Nahen Ostens gesät worden waren.
Im Herzen sind Sufismus und Christentum verbunden – vielleicht im eigentlichen Sinne des Wortes, gewiss jedoch spirituell