Das nächste Röntgenbild ergab, dass die Knochen immer noch nicht zusammenpassten. In einer Operation sollten dann die Knochenenden richtig zusammengefügt werden. Ich erhielt diesmal eine Lachgasnarkose. Nach dem Aufwachen, diesmal ohne Übelkeit und Erbrechen, war mein linkes Bein vom Fuß bis ganz, ganz oben unter der Pobacke in Gips. In der Operation waren vier Schlingen aus Silberdraht um mein Schienbein gewickelt worden. Das Wadenbein war glatt gebrochen und benötigte somit diese Prozedur nicht.
Die letzte Operation hatte zwei Wochen nach dem Unfall und Einlieferung ins Krankenhaus stattgefunden.
Nun lag ich acht Wochen mit dem Gipsbein im Bett.
Das St. Elisabeth war ein katholisches Krankenhaus. Die Oberin der Station und ihre Stellvertreterin waren Ordensschwestern. Sie trugen eine bodenlange, schwarze Ordenstracht mit Haube, bei der nur das Gesicht zu sehen war.
Es herrschte ein strenges Regime. Vor der Visite wurden die Betten gerichtet, danach mussten wir still auf dem Rücken liegen und die Arme parallel zum Körper auf der Bettdecke ablegen.
Besuchszeiten waren mittwochs von 15 bis 16 Uhr und sonntags von 14 bis 16 Uhr. Bis zur Besuchszeit war das große Tor in der Biedermannstraße verschlossen. Punkt 14 Uhr wurde es geöffnet und die davor wartenden Angehörigen stürmten auf das Klinikgelände und ins Haus auf die einzelnen Stationen. Dabei konnten schon mal mehrere Minuten der wertvollen Besuchszeit vergangen sein.
Zum Ende der Besuchszeit ging die Oberin mit einem Gong von Zimmer zu Zimmer und forderte die Besucher strikt zum Gehen auf.
Ich lag auf der chirurgischen Männerstation in einem Kinderzimmer mit acht Betten. Brauchte man hier aber ein Bett, wurde ich in einem „Männerzimmer“ mit 16 Betten untergebracht. Vermutlich deshalb, da ich schon die längste Zeit im Krankenhaus lag.
Dort sah ich viel Leid, war aber auch Zeuge von derben Witzen. Eine Krankenschwester betrat einmal in ihrer Freizeitkleidung das Zimmer. Das Kleid besaß einen tiefen Rückenausschnitt, was einen Patienten spontan zu der Äußerung veranlasste: „Schwester, Sie haben Ihr Kleid verkehrt herum an.“
Nach acht Wochen im Krankenbett bekam ich einen sogenannten Gehgips. Der hieß so, weil am Fußende ein Metallbügel eingegipst war und so durfte ich zwei Wochen nach Hause. Nach zehn Wochen im Liegen konnte ich mich nun erstmals wieder mühsam fortbewegen.
Aber ich musste noch einmal ins Krankenhaus. Da sollte der Gips entfernt werden und ich wieder nach Hause gehen dürfen. Der Arzt nahm eine große Schere, um den Gips aufzuschneiden. Dieser war sehr hart geworden. Der Versuch misslang. Der Doktor bekam einen Wutanfall und sagte nur: „Ab, auf Station!“
So war ich schneller wieder im Krankenhaus, nichts mit Gips ab und nach Hause.
Am nächsten Tag legte man mich in eine Badewanne voll warmen Wassers und der Gipsverband löste sich. Zum Vorschein kam ein Bein, das in allen Farben schimmerte. Im Knie konnte ich es nicht beugen. Für die Entzündung gab es Salbe und für das steife Knie Krankengymnastik. Auf dem Bauch liegend beugte der Therapeut das Bein im Kniegelenk, was stark schmerzte.
In Woche 14 nach Einlieferung sollte ich dann endlich entlassen werden. Am Vortag der Entlassung löste sich ein Grind an der Operationsnarbe am Schienbein. Oh Schreck, ein Stück Silberschlinge schaute heraus! Nichts mit Entlassung. In einer weiteren Operation wurde die Schlinge entfernt. Diese Aktion verlängerte den Krankenhausaufenthalt um weitere zwei auf insgesamt 16 Wochen.
Inzwischen war es Mitte Juli und in den großen Ferien. 14 Wochen hatte ich die Schule nicht besucht. Meine Eltern vereinbarten mit der Klassenlehrerin, dass ich nicht nach Klasse 5 versetzt werde.
So besuchte ich ab dem 1. September 1963 nochmals die 4. Klasse. Der Lehrer Herr P., ein noch junger Mann, hatte die Klasse nicht im Griff, sondern die Klasse ihn. Mein Vater sah sich die Geschichte bis zum Halbjahreszeugnis vor den Winterferien 1964 an. Mit dem Schuldirektor Erich Pöschel war er per Du und so reichte eine kurze Bitte: „Erich, nimm meinen Jungen aus der 4 c.“ Und so geschah es, ab dem zweiten Halbjahr besuchte ich die 4 a bei Frau K.
Meine Oma Ida kenne ich nur als herzkranke Frau, man sagte: „Sie hat ein schwaches Herz von der vielen Arbeit.“ Das Laufen fiel ihr schwer, längere Strecken waren nicht möglich, da fiel es ihr leichter, mit dem Fahrrad zu fahren.
Als „Findelkind“ in schweren Verhältnissen bei Pflegeeltern aufgewachsen, hatte sie nur ein Ziel, im Leben etwas zu erreichen.
Aus diesem Grund wollte sie auch nur ein Kind bekommen und großziehen. Damals, in der vorwiegend kinderreichen Zeit, eine Seltenheit. Sie wusste, Kinder kosten Geld und schränken ihre Erwerbstätigkeit ein.
Oma Ida und mein Vater verstanden sich gut, Schwiegermutter und Schwiegersohn waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, beide hatten große Not in der Kindheit und Jugend kennengelernt.
Mit starkem Willen, Ehrgeiz, Fleiß und der notwendigen Geschäftstüchtigkeit erarbeiteten sie sich einen bescheidenen Wohlstand.
Meine Großeltern kenne ich nur im Rentenalter. Oma Ida konnte wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit nur noch ihren Haushalt versorgen.
Opa Alwin hingegen arbeitete noch in der Tischlerei als Hofarbeiter. Dort sorgte er für Ordnung und Sauberkeit auf dem Holzlagerplatz und in der Werkstatt. Im seinem Wohnhaus, der Leinestraße 2, war er Hausmeister, kehrte Fußweg, Hof, Keller und Trockenboden und schob im Winter Schnee. Dafür bekam er von der Hausbesitzerin einen Mietnachlass, musste nur 20 statt 30 Mark monatlich zahlen.
In den 60er Jahren waren elektrische Waschmaschinen noch eine Seltenheit, die Wäsche wurde mit der Hand auf dem Waschbrett gewaschen. Die große Wäsche machten Oma Ida und meine Mutter für beide Haushalte zusammen in der Leinestraße. Sie dauerte drei Tage lang.
Der Ablauf war wie folgt: Zunächst gab es einen Eintrag im Kalender, der im Treppenhaus hing. Jeder Mieter schrieb dort ein, wann er waschen wollte und somit Waschhaus und Trockenplatz benötigte.
Am ersten Tag wurde die Wäsche mit Sil oder Gemol eingeweicht, so sollte sich der Schmutz schon lösen.
Am zweiten Tag spannte Opa Alwin die Wäscheleine auf dem Hof, diese musste sehr straff gespannt werden, damit die nasse, schwere Wäsche nicht durchhing. Danach heizte er den Waschhauskessel an.
Die Holzwannen wurden mit warmem Wasser aus dem Kessel gefüllt, da hinein kamen Waschpulver und die vorgeweichte Wäsche. Das Ganze wurde mit einem keulenähnlichen Gegenstand aus Holz mehrfach kräftig umgerührt. Je nach Wäscheart und Verschmutzung kam die Wäsche dann aufs Waschbrett, wurde gerubbelt, geknetet und aneinander gerieben. Nach dem Waschgang musste mehrfach und gründlich mit klarem Wasser gespült werden, bis keinerlei Waschmittelrückstände mehr vorhanden waren.
Nach dem Spülgang kam die Wringmaschine zum Einsatz. Zwei drehbare Zylinder standen mit kleinem Abstand übereinander. Mit einer Kurbel wurden die Zylinder gedreht und durch den Spalt die nasse Wäsche gezogen, so dass das Wasser herausgedrückt wurde. Die noch feuchten Wäschestücke kamen auf die Leine und wurden mit hölzernen Klammern befestigt.
Bei Regen konnte die Wäsche nicht auf dem Hof getrocknet werden, wenn möglich, wartete man noch einen Tag länger, d.h. nur, wenn an dem Tag dann kein anderer Mieter den Trockenplatz für sich beanspruchte. Anderenfalls musste die ganze Wäsche