Lara Bauer erläuterte den Einsatzplan für die kommende Woche und die Aufgabeneinteilung. Als sie fertig war, stellte sie ihn allen einzeln vor. Die Händedrücke waren fest, bei einem der sportlichen Kollegen spürte er eine Handkante mit harten Schwielen. Ein Judoka, dachte er sich. Einige waren freundlich, zwei ältere mürrisch, alles in allem kein unfreundlicher Empfang. Lara ging mit ihm zu einem der älteren Kollegen.
„Kollege Nowotny wird Sie über unsere Arbeit aufklären, Sie haben eine Woche Zeit, um sich theoretisch einzuarbeiten.“
„Kumm, gemma“, sagte der Mann in breitem Wienerisch.
Lukas folgte ihm in ein kleineres Zimmer.
Der neue Kollege begann: „Zuerst einmal eine kurze Einführung über die Prostitution in Wien. Bei uns kann man in der ganzen Stadt Huren finden. Einen Straßenstrich haben wir am Gürtel und einen im Stuwerviertel, beim Prater. Daneben gibt es entlang des Gürtels und der angrenzenden Gebiete eine Häufung von Puffs. Das Gleiche gilt für das Stuwerviertel. Insgesamt sind es etwa dreihundert. Und dazu in fast jeder größeren Straße irgendeine Art von Sexshop, Laufhaus, Swingerclub oder Animierbar. Die einheimische Bevölkerung nimmt das aber kaum wahr. Wir haben ungefähr dreitausend registrierte Prostituierte, die Abgaben zahlen, ärztlich kontrolliert werden und laut Gesetz für ihre Leistung Recht auf Entlohnung haben. Tatsächlich dürften aber acht- bis zehntausend Frauen und Männer in der Branche arbeiten. Dazu kommt der Sex-Tagestourismus, das heißt junge Mädchen und Frauen, die aus der Slowakei und Tschechien kommen, keine Zuhälter haben und von uns auch nicht kontrolliert werden. Sie verdienen in einer Nacht mehr als in ihrer Heimat als Friseurin oder Krankenschwester in einem Monat. Sie führen ein riskantes Leben, weil sie als unlautere Konkurrenz betrachtet werden. Fünfundneunzig Prozent aller Huren kommen aus dem Ausland, sie sind illegal und legal da, manche haben Arbeitsbewilligungen, zum Beispiel als Tänzerin oder Kellnerin, manche nicht. Die meisten arbeiten für Zuhälter oder, wie es jetzt immer öfter der Fall ist, für Organisationen. Momentan haben wir eine neue Situation, denn im Stuwerviertel, wo es schon seit ewigen Zeiten einen Strich gibt, greift die Polizei plötzlich durch. Und zwar wegen der neuen Wirtschaftsuniversität, weil in der Gegend jetzt Häuser saniert werden, in denen Zwei-Zimmer-Eigentumswohnungen um dreihunderttausend Euro angeboten werden. Die Politik will die Prostitution dort hinausekeln. Das heißt häufige Kontrollen, Einbahnregelungen, die es den Freiern schwerer machen, mit dem Auto auf Aufriss zu gehen. Was dabei herausschauen soll, weiß ich nicht. Das ist aber alles nicht unsere Aufgabe. Vor der Ostöffnung war die Situation einfacher, wir hatten eine gute Kommunikation mit allen Beteiligten. Aber heute ist alles anders. Die einheimische Prostitution wurde fast ganz von mafiösen Organisationen verdrängt, die ihre eigenen Mädchen mitbringen. Zum Beispiel hatten wir auch eine Zeit lang viele Nigerianerinnen im Geschäft.
Die SOKO wurde eingesetzt, weil derzeit, um es in der Sprache der Wirtschaft zu sagen, eine unfreundliche Übernahme erfolgt. Ein mächtiger Konzern, der den ganzen Markt übernehmen will. Nicht nur Prostitution, sondern auch Menschen- und Rauschgifthandel. Mit Sitz im Osten, wir vermuten in Moskau. Kleinere Bordelle werden angezündet, Zuhälter und Frauen verprügelt oder sogar erschossen. Die, die übrig bleiben, arbeiten jetzt nur mehr für diese große Organisation, zahlen vermutlich Schutzgeld. Für frische Ware ist immer gesorgt – durch Agenten, die in den russischen und ukrainischen Provinzen und auch in den neuen EU-Ländern ständig auf der Suche nach jungen Mädchen sind, die mit falschen Versprechungen in den Westen gelockt werden. Dabei helfen ihnen nicht selten lokale Polizisten, die von ihnen bestochen werden. Den Mädchen wird Arbeit versprochen – als Model oder als Tänzerin. Aber sie enden in den westlichen Bordellen. Es spielen sich unzählige Dramen ab. Wien ist für viele nur eine Zwischenstation, von hier aus gehen sie weiter, in die Schweiz, nach Frankreich und Deutschland. Die Kundschaft will Abwechslung, und so wandern sie von einem Etablissement zum anderen. Wir arbeiten auch mit den russischen Behörden zusammen, denn auch im Lande Putins will man nicht, dass gerade ihre hübschesten Mädchen bei uns als Prostituierte enden.
Kabakow, den du angeschossen hast, war eine Schlüsselfigur. Wie du vielleicht weißt, suchte er wegen politischer Verfolgung durch Russland um Asyl an, weil er Tschetschene ist. Schon während sein Ansuchen lief, begann er, Wien unsicher zu machen. Er war überaus gefürchtet und verhasst, schlug Zuhälter zusammen und verprügelte Mädchen. Er ist ein Sadist. Irgendjemand muss ihn protegieren, denn sein Asylantrag ist noch immer nicht abgelehnt. Es hat lange gedauert, bis wir ihm endlich etwas nachweisen konnten. Seine DNA wurde an einem erschossenen Zuhälter festgestellt. Aber er hat irgendwie davon erfahren und ist untergetaucht. Mehrere Versuche, ihn zu erwischen, misslangen. Anscheinend wurde er immer vorher gewarnt, bis wir den Tipp mit der Parksauna bekamen. Den Rest der Geschichte kennst du.“
„Haben Sie irgendwelche Unterlagen zu dem Ganzen, ich möchte nicht dauernd blöde Fragen stellen.“
„Hier hast du einen Ordner mit Zeitungsausschnitten und eine Mappe mit den Zielen unseres Kommandos. Und da ist noch das neue Gesetz für Prostitution in Wien. Lies das alles einmal durch.“
Für den Rest des Tages saß Lukas an seinem Schreibtisch und studierte die Dokumente. Da er bis zum Abend nicht fertig wurde, nahm er sie mit nach Hause.
Schon am dritten Arbeitstag hatte Lara Bauer eine Aufgabe für ihn. Sie fuhren mit einem Privatauto nach Hernals.
„Eins musst du noch wissen, bevor du mit deiner Arbeit beginnst. Ein Kriminalpolizist verbringt einen Großteil seiner Zeit damit, zu beobachten und abzuwarten. Die Aktionen, die folgen, sind meist kurz und oft gewaltsam. Das meiste finden wir heute über die vernetzten Datenbanken der Polizei und über das Internet heraus. Es ist erstaunlich, wie viele Informationen von großen Organisationen im Netz zu finden sind und wie durch den Abgleich der Daten Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können. Aber in den nächsten Wochen wird es für dich langweilig werden. Du wirst deine Dienstzeit in einer Wohnung verbringen, durch deren Fenster du ein neues Sauna-Bordell beobachten wirst und die Besucher fotografieren sollst.“
Sie waren in einer Straße angekommen, in der vier- und fünfstöckige Häuser standen, mit schmucklosen Fassaden aus der Nachkriegszeit. In einem der Gebäude stiegen sie in den vierten Stock. Lara läutete dreimal kurz, einmal lang. Die Tür öffnete sich, und ein Kollege, den er vom Sehen kannte, ließ sie hinein. Aus einem der Fenster der Dachwohnung konnte man den ganzen Hof und die Rückseite eines neuen Gebäudes überblicken.
„Das da unten ist ein Freudenhaus, das von einem Architekten geplant wurde. Perfekter Standort, gleich um die Ecke eine U-Bahn-Station. Bei der Einreichung des Plans wurde es als Sauna bewilligt, aber sofort nach der Fertigstellung wurde eine Umwidmung in ein Bordell beantragt. Alle Vorschriften wurden eingehalten, nichts kann dagegen unternommen werden. Nach außen hin verläuft alles ruhig, keine Schwierigkeiten. Aber du kannst dir vorstellen, dass die Anrainer dagegen protestieren. Wir sind aber nicht deshalb hier, sondern weil wir glauben, dass hinter den Eigentümern, einem Herrn Eisendle und einem Herrn Gruber, unser Syndikat steckt. Es könnten dieselben Leute sein, denen die Parksauna gehört, die übrigens trotz unserer Razzia floriert. Also wollen wir wissen, was hier vor sich geht. Zuerst haben wir eine Zeit lang den Haupteingang vorne überwacht, haben dann aber aufgehört, weil wir bemerkt wurden. Man hat sich über uns an höherer Stelle wegen Geschäftsstörung beschwert. Jetzt beobachten wir die Rückseite, was sicher auch effektiver ist, weil die wichtigen Leute mit ihren Autos im Hof parken und die Hintertür benützen. Diese Wohnung hier stand leer, und wir haben sie gemietet.“
In dem Geviert, das die Häuser bildeten, lagen Höfe und hübsche Gärten. Das Grundstück des Bordells war durch eine hohe Mauer von ihnen abgegrenzt. Lukas nahm ein beim Fenster liegendes Fernglas in die Hand und sah sich das Gebäude genauer an.
„Das Ganze ist videoüberwacht, und es gibt Bewegungsmelder. Es ist unmöglich, unbemerkt über die Mauer zu kommen.“
„Wissen wir, deshalb beobachten und fotografieren wir. Das Okay vom Staatsanwalt haben wir, aber wir müssen die Bilder nach der Auswertung sofort löschen. Nur verdächtige Personen dürfen gespeichert werden. Du fängst gleich jetzt an,