Kapitel IV - Belagert
Sie erreichten den ersten Treppenabsatz, als Frank ein Gedanke kam.
»Sag mal, willst du die Tür da unten nicht sichern?«
»Wofür«, sagte Sandra über die Schulter hinweg, ohne stehen zu bleiben.
»Diese Dinger könnten hier reinkommen!«
Sandra blieb stehen, und sah ihn über die Schulter mit dem pädagogisch geschulten Blick einer Lehrerin an, die es mit einem besonders begriffsstutzigen Exemplar der Gattung hohle Nuss zu tun hatte.
»Das da unten ist eine Paniktür.«
»Ja und?«
»Wie geht eine Paniktür im Notfall auf?«
»Nach außen, zur Straße hin.«
»Na bitte. Hast du jemals eines von diesen Dingern gesehen, das sich rückwärts bewegte? Die kennen nur eine Richtung. Vorwärts, immer dem Frischfleisch entgegen.«
Frank spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Glücklicherweise war es im Hausflur dämmerig. Aber er wollte dennoch nicht wie ein kompletter Trottel dastehen.
»Sie könnten lernen.«
»Ja. Und wenn ein Schwein Flügel hätte, würde es im Herbst nach Süden fliegen.« Kopfschüttelnd ging Sandra weiter. »Am nächsten Absatz bleibst du hinter mir stehen und wartest.«
Frank atmete tief durch und folgte Sandras Anweisung. Sie stand etwa zwei Stufen unter dem nächsten Absatz und fingerte an einem eiförmigen Gebilde, das mit Klebeband an einer Stange des Geländers festgeklebt war. Frank sah einen Draht aufblitzen, und er wusste plötzlich, was sie da tat.
»Okay, weiter geht’s. Warte da vorne. Ich sichere die Treppe wieder.«
Frank ging an ihr vorbei. Dann kam Sandra die letzten Stufen hoch, ging in die Hocke. Mit geschickten Fingern befestigte sie den Draht wieder am Abzugsring der Handgranate.
»Warst du beim Militär?«, fragte er, und hoffte, dass Zittern in seiner Stimme würde ihr nicht auffallen.
»Nein. Ich habe alle Rambofilme gesehen.«
Frank beschloss, ihr keine weiteren Fragen zu stellen. Auch wenn es ihm nicht gefiel, keine Kontrolle über die Situation zu haben, blieb ihm keine andere Wahl. Sie hatte seine Waffen, draußen wurde es dunkel und er war hier gefangen. Zumindest bis morgen.
Ohne ein weiteres Wort ging Sandra den Korridor entlang. Alle Türen standen offen. Offenbar hatte Sandra sie geöffnet, damit das Tageslicht aus den ehemaligen Klassenzimmern den Gang beleuchtete. Frank sah im Vorbeigehen in die ehemaligen Schulklassen, die man zu Laboratorien und Krankenzimmern umfunktioniert hatte. Sandra entschärfte auf ihrem Weg zwei weitere Sprengfallen, bevor sie an eine Kreuzung des Korridors kamen und sich links hielten. Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.
»Da runter sind die Waschräume und die Toiletten. Nimm aber einen Eimer und kipp es aus dem Fenster. Ich habe keine Lust, hier drin zu ersticken.«
Am Ende des Korridors führte sie Frank in ein Klassenzimmer. Mehrere Betten standen an der langen Wand gegenüber den Fenstern. An der Schmalseite des Raumes, gegenüber der Wand mit der Schiefertafel, stapelten sich mehrere Kisten, in denen sich laut Beschriftung Notrationen befanden, sowie ein kleiner Tank für Frischwasser. Sandra setzte sich seufzend auf eines der Betten. Sie legte Franks Maschinenpistole über ihre Knie, rutschte bis zum Kopfende des Bettes hoch, und machte es sich bequem. Ihr Kopf lehnte an der Wand. Sie starrte nachdenklich die Decke an.
»Fühl dich wie daheim. Wenn du Hunger oder Durst hast, bedien dich. Morgen früh entscheiden wir, wie es mit dir weitergeht.«
»Hast du keine Angst, dass ich im Dunkeln über dich herfalle? Immerhin bin ich doch ein Wildfremder. Und wahrscheinlich ein Plünderer noch dazu!«
Sandra senkte ihren Blick und grinste ihn müde an.
»Wenn du wirklich etwas im Schilde führen würdest, hättest du längst was in diese Richtung versucht. Außerdem wirkst du auf mich eher … hm … hilflos, sobald du einer starken Frau gegenüberstehst.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Danke.«
»Gern geschehen.«
Frank suchte sich eine Notration aus und setzte sich auf das Bett neben Sandra.
»Was hast du vor dieser ganzen Sache gemacht?«, fragte er kauend.
»Soll das ein Smalltalk wie bei einem Blind Date werden?«
»Naja, immerhin bin ich bis morgen früh dein Gast. Warum sollten wir uns nicht besser kennenlernen, bevor wir entscheiden, wie es weitergeht?«
»Willst du zurück in dein Haus?«
»Ja. Da fühle ich mich irgendwie sicherer. Nur das Problem mit den Vorräten hat mich da rausgeholt. Ich habe zwar eine gute Solaranlage auf dem Dach, aber die Speicherbatterien sind nicht ganz das, was die Herstellerangaben versprochen haben. Meine Tiefkühltruhen sind aufgetaut, und kalte Konserven sind auf Dauer auch nicht das Wahre.«
»Ich fühle mich hier sicherer. Dieses Gebäude ist groß genug, dass ich im schlimmsten Fall abhauen oder mich verstecken kann. Ein Haus wäre mir zu klein.«
Frank wühlte in dem Paket der Notration herum und fand einen Schokoriegel. Er beugte sich zur Seite und hielt ihn Sandra hin. Lächelnd nahm sie ihn an.
»Ganz Kavalier der alten Schule, nicht wahr? Was hast du vorher gemacht?«
»Ich bin eigentlich Diplom Ingenieur. Nach meinem Studium bin ich in die Entwicklungsabteilung eines Autoherstellers gegangen, und von da aus als Boxenmechaniker in das Werksteam für die DTM.«
»Ein hochqualifizierter Mann, der lieber KFZ-Mechaniker an Rennautos spielt, anstatt die dicke Kohle einzuheimsen?«
»So toll verdient man als diplomierter Ingenieur auch nicht. Das Angebot des Rennstalls war da schon um einiges besser. Und was hast du gemacht, bevor das alles hier passierte?«
Sandra druckste herum.
»Meistens Filme.«
»Du warst Schauspielerin?«
Sandra seufzte. Täuschte Frank sich, oder wurde sie etwa verlegen?
»Eher eine Darstellerin.«
»In welchen Filmen warst du denn dabei?«
»Keine, die du kennst.«
»Meinst du?«
»Ja. Es waren Erwachsenenfilme, in denen ich mitgespielt habe. Die von der Sorte, die du ohne Ausweis in der Videothek nicht ausleihen darfst.«
»Oh!«
Sandra sah auf und in ihren Augen funkelte Zorn.
»Mach nicht OH, als wäre das etwas Ansteckendes. Ich habe gutes Geld verdient, und solche verklemmten Typen wie du konnten sich dafür unter der Bettdecke einen aus der Leiste hobeln, wenn sie gerade keine Frau zur Hand hatten. Und nur damit du es weißt: Es läuft nichts, mein Freund. Noch habe ich die Knarren, also bilde dir nichts ein, klar?«
Frank sah betreten auf seine Hände. Schweigen legte sich zwischen die beiden. Eine Stille, in der eine gehörige Portion Peinlichkeit mitschwang. Sie waren zwei Menschen, die durch äußere Einflüsse aneinandergekettet worden waren. Unter normalen Umständen wären sie sich vielleicht niemals begegnet. Und wenn doch, so wären sie beide einfach aneinander vorbeigegangen, ohne den jeweils anderen zu bemerken. Frank verkniff sich die naheliegende Frage, wie Sandra denn ausgerechnet in dieses Gewerbe geraten war. Allmählich wurde es draußen dunkler. Vereinzeltes Stöhnen drang durch die Fenster nach oben.
»´tschuldige«, murmelte Sandra und stand auf. »Ich wollte dich nicht beleidigen.« Sie ging zum Fenster. Frank stand auf und stellte sich hinter sie.