Der Unterricht ging in einem gemäßigten, langsameren Tempo voran und Herr Reimert hatte genügend Zeit, sich mit jedem von uns sechs Schülern individuell zu beschäftigen, was ja auch der Sinn der S-Klassen war.
Schnell gewöhnte ich mich an den Schulalltag und es machte mir großen Spaß, Rechnen und Lesen zu lernen. Das Fach »Heimatkunde« hatte es mir besonders angetan. Für mich als wissbegieriges Kind war dies genau das richtige Unterrichtsfach um zu erfahren, wie dies und jenes funktionierte. In manchen Stunden fragte ich Herrn Reimert regelrecht und vorwiegend alleine über Dinge aus, die so in der Natur passierten und für die ich selbst keine Erklärung fand.
Meine Klassenkameraden brachten zwar alle die Fähigkeit mit, dem Unterricht zu folgen, dennoch fiel dies einigen recht schwer. Geduldig übte Herr Reimert mit ihnen den Stoff immer und immer wieder. Doch für mich konnte es meist nicht schnell genug gehen, etwas Neues zu lernen. Dies bekam Herr Reimert auch recht bald mit. Er merkte, dass ich von meinem geistigen Niveau bedenkenlos die erste und zweite Klasse in dem normalen Tempo hätte absolvieren können. Im theoretischen Unterricht war ich topfit. Doch nicht umsonst wurde ich in die S-Klasse eingeschult. Was sich schon in der Vorschule herausstellte, erwies sich jetzt zunehmend als mein größtes Handicap. Ich konnte mit meinen eigenen Händen nicht ohne fremde Hilfe schreiben.
Während meine Schulkameraden fast in jeder Deutschstunde einen neuen Buchstaben lernten und damit immer weitere Wörter bilden und dann auch schreiben konnten, vermochte ich nur alles theoretisch zu lernen und beim Schreiben zuzusehen. Herr Reimert versuchte, wie Frau Kleinert in der Vorschule, meine Hand beim Schreiben zu führen. Auf diese Weise brachte ich auch etwas Lesbares zu Papier. Doch sobald er meine Hand losließ, schleuderte mein ganzer Arm über das Blatt und hinterließ eine lange »Schleifspur«. Auf Anhieb hatte Herr Reimert keine Lösung parat, wie ich selbstständig schreiben könnte. In ganz kleinen Schritten wollte er sich an diese große Herausforderung herantasten.
Für die folgenden Wochen und Monate beschloss mein Klassenlehrer in Absprache mit unserem Schuldirektor, mich zunächst vorwiegend theoretisch zu unterrichten. Dessen ungeachtet sollte nicht aus den Augen verloren werden, mit mir weiterhin das Schreiben zu üben.
Der Pioniergeburtstag
Die Zeit in der S1 verstrich unmerklich. Draußen begann es richtig frostig zu werden und die Landschaft bedeckte sich allmählich mit Schnee.
Die immer dunkler werdenden Nachmittage verbrachten wir meist in unserem Klassenraum, der uns zugleich als Gruppenraum diente. Dreimal in der Woche war Hausaufgabennachmittag. Das wurde von der Leitung so festgelegt und galt für alle Klassen. Frau Griebel, unsere Erzieherin, löste dann mit uns die gestellten Aufgaben und übte in Absprache mit Herrn Reimert ein wenig mit uns den zuvor gelernten Unterrichtsstoff. Sie war für uns so etwas wie eine »Ersatzmutti«.
Die Zeit für die Hausaufgaben betrug in den unteren Klassen eine Stunde. So blieb danach noch etwas Zeit zum Spielen.
Die hausaufgabenfreien Nachmittage waren den so genannten außerunterrichtlichen Aktivitäten vorbehalten, die wir mehr oder weniger gern mochten. Einfach nur spielen war wohl die beliebteste dieser Beschäftigungen. Doch neben Spaziergängen zählten auch Pioniernachmittage dazu.
Um solche Nachmittage zu veranstalten, war es vorbestimmt, uns Schüler erst einmal in die Pionierorganisation aufzunehmen. Als Teil des früheren Bildungssystems war diese in Form einer politischen Kinderorganisation in das Schulleben integriert. So wurde die Aufnahme in diese Organisation fast als ein Großereignis zelebriert und uns deshalb so richtig schmackhaft gemacht, etwa nach dem Motto »Nur als Pionier bist du ein guter Schüler«. Damit wir dieser Gemeinschaft beitreten konnten, mussten wir zuvor die zehn Gebote der jungen Pioniere, nach denen wir dann zu handeln hatten, auswendig lernen. Dazu nutzte Frau Griebel fast jede freie Minute. In den Tagen vor der Aufnahme lernten wir nahezu täglich ein neues Gebot. Diese waren voll auf eine sozialistische Erziehung ausgerichtet. So hieß zum Beispiel das erste Gebot: »Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.«
Am 13. Dezember begingen zu DDR-Zeiten die Schüler der ersten bis siebten Klasse den Pioniergeburtstag. Dieser wurde bei uns im großen Rahmen gefeiert und war für unsere gesamte Einrichtung immer ein besonderes Ereignis, zu diesem auch die »Großen«, die FDJler geladen waren. Extra für diesen Nachmittag wurde der riesige Saal in der Gaststätte »Brauner Hirsch« unten im Dorf gemietet. Dieser bot allen Kindern, Lehrern und Erziehern ausreichend Platz. Ein großer Bus musste gleich mehrmals fahren, um uns alle in diese Lokalität zu bringen. Es war für das Personal kein unerheblicher Aufwand, uns in und wieder aus dem Bus zu helfen.
Einem solchen Nachmittag ging stets eine einstündige Feierstunde voraus. In ihr wurde unter anderem Rechenschaft der Tätigkeiten der Pioniere abgelegt und Schüler für ihr fleißiges Lernen ausgezeichnet.
Der Pioniergeburtstag gab stets den willkommenen Anlass, die Kinder der S1 beziehungsweise der ersten Klasse in die Reihen der Pioniere aufzunehmen. So auch am 13. Dezember 1974. Nach heutiger Recherche weiß ich, dieser Tag war ein Freitag.
Aufgeregt und zappelig saßen wir nun vorn vor all den anderen Schülern in unseren neuen, noch weiß strahlenden Pionierhemden, auf dessen linken Oberarm sich das Emblem der Pionierorganisation zeigte. Die Zeremonie unserer Aufnahme übernahm die Pionierleiterin, Frau Wesel. Sie lernten wir schon in den Tagen der Vorbereitung kennen, eine hochgewachsene, schlanke, dunkelhaarige Person mittleren Alters. Ihre dicke Brille und ihr strenger Blick flößten uns allen großen Respekt ein.
Frau Wesel trat an das Rednerpult und erzählte, was von uns als Pionier erwartet wird. Nachdem sie uns noch einmal die zehn Gebote der Jungpioniere vorlas, legten wir das Gelöbnis der Jungpioniere ab. Frau Wesel sprach es uns langsam stückchenweise vor und wir sprachen es ihr nach. Wir gaben uns alle große Mühe, dabei keinen Fehler zu machen. Danach wurde uns das blaue Halstuch umgebunden und uns der Pionierausweis überreicht. Diesen hielten wir freudestrahlend in unseren Händen und waren stolz, nun ein Jungpionier zu sein.
Als so der offizielle Teil eines solchen Nachmittages vorüber war, begann eigentlich das, auf das wir uns schon die ganzen Jahre über freuten und auch herbei sehnten, Party-Time pur! Mit der Zeit wussten wir außerdem, was es zu Essen gab: Echte Leckereien, die wir so in der Schulzeit nicht bekamen. Zum Kaffee mit Schlagsahne prall gefüllte Windbeutel und abends sogar Gehacktes. Zwischen Kaffee und Abendbrot spielte richtig laut Musik, zu der wir mit unseren Erziehern und Lehrern tanzten. Das war immer der volle Gaudi. In den ersten Jahren spielte noch eine richtige Kapelle, einige Male sogar eine der Armee aus Ilsenburg. So nach und nach wurde die Live-Musik durch Diskos ersetzt. – Eigentlich schade!
Leider vergingen solche Nachmittage stets viel zu schnell. Stundenlang hätten wir noch weiter rumtanzen können. Doch nach dem uns der Bus wieder zu den entsprechenden Häusern brachte, dauerte es noch eine ganze Weile bis das Personal uns in die Betten bekam. Wir waren einfach zu aufgekratzt. Allmählich gewann die Müdigkeit, trotz anhaltender Heiterkeit, die Oberhand und wir schliefen erschöpft ein.
Mein erstes Zeugnis
Die Ereignisse im ersten halben Jahr der S1 überschlugen sich förmlich. Hatte ich mich gerade an den Alltag in der Schule gewöhnt, begannen dann recht bald die Vorbereitungen für die Aufnahme in die Pionierorganisation. Nach dieser großen Feier rückten die Weihnachtsferien mit schnellen Schritten voran. Auf diese freute ich mich natürlich auch schon.
Kaum waren diese vorbei und das Jahr wechselte, hieß es: »In vier Wochen bekommt ihr eure ersten Zeugnisse.« Dem fieberten wir alle entgegen und legten uns in der Schule noch einmal so richtig ins Zeug.
Zur Zeugnisausgabe war es Tradition, unser blaues Pionierhalstuch umzubinden. Voller Neugier