50 Jahre Lehren und Lernen. Wolfgang Großmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Großmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783957444806
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      Das spiegelt sich auch in der persönlichen Freizeitgestaltung wider: intensive sportliche Betätigung oder spezielle Hobbys waren nie „mein Ding“, ich brauchte vor allem Bücher. Das Wochenende oder Feiertage wurden ausgestaltet mit einem Stapel Bücher, die ich mir aus der Leihbücherei holte: Wild-West-Romane (siehe „Billy Jenkins“!), Krimis und „Zukunfts“-Romane. In meiner Vorstellung nahm ich an der Handlung selbst teil, schärfte mein Lesevermögen und meine Ausdrucksfähigkeit.

      Der Gerechtigkeitssinn von Herrn F. bewies sich in einer Situation: Ich gehörte zu den 3 Rabauken in der Klasse, die für viele Streiche verantwortlich waren, denen aber auch manches voreilig „in die Schuhe“ geschoben wurde. Um uns zu bestrafen und gleichzeitig Ordnung zu schaffen, wurden wir 3 Rabauken 4 Wochen strafversetzt: je einer in die Mädchenklasse und einer in die parallele Jungenklasse (der hat sich am meisten geärgert!). Die 4 Wochen in der Mädchenklasse im 7.Schuljahr waren die erfolgreichsten im ganzen Jahr. Nachdem ich die erste Scheu abgelegt hatte, bekam ich hier meine besten Noten, weil ich mich angestrengt habe und weil ich nach „Mädchen-Maßstab“ beurteilt wurde. Unvergessen bleibt mir ein Geschichtsreferat. Vorher gab es Kirschwein, weil ein Mädchen Geburtstag hatte; danach habe ich noch nie so flüssig wie vorher geredet. Leider waren die 4 Wochen bald vorbei; aber Herr F. hatte die Übeltäter gefunden, die sich hinter unserem Rücken versteckt hatten.

      Eine wichtige Rolle in meinem Leben an der Grundschule und zum Teil noch an der EOS (Erweiterte Oberschule = Klassen 9-12) spielte die „Jungen Gemeinde“. Ich war nie Mitglied der „Jungen Pioniere“, weil deren Arbeit an der Schule dröge, langweilig und ideologisch überfrachtet war. In unserer Klasse gab es neben mir noch den Sohn eines Goldschmiedemeisters und den Sohn eines selbständigen Zahntechnikers. Wir standen immer politisch abseits.

      Mit dem Beginn des Konfirmandenunterrichts lernte ich das Leben in der „Jungen Gemeinde“ kennen und fühlte mich dort geborgen. Das hatte vor allem etwas zu tun mit der charismatischen Gestalt des Pfarrers K. an der Lukas-Kirche in Leipzig-Volkmarsdorf2.

      Über ihn heißt es in den Unterlagen der Abteilung V der MfS-Bezirksverwaltung Leipzig, „er habe die Pionier- und FDJ-Arbeit an der 16. und 18. Grundschule vollkommen zerschlagen“3. Das ist sicher überzogen, aber das, was in der „Jungen Gemeinde“ geschah, war wesentlich attraktiver, weil kinder- und jugendgerecht. In dem damals äußerlich recht unattraktiven Gemeindehaus in der Juliusstraße fanden wir uns 1x in der Woche zu einem Nachmittag zusammen. Am Beginn stand immer eine Wild-West-Geschichte, von Pfarrer K mitreisend erzählt. Im Mittelpunkt der Geschichten stand Christian Ritter(!), ergänzt durch den „Haudrauf“ Bobby. Durch mein Wild-West-Schmökern bekam ich bald mit, dass die Geschichten „entlehnt“ waren bei Billy Jenkins4. Nach den Geschichten folgten Wettspiele zwischen den Gruppen – so recht nach dem Geschmack von Jugendlichen, die sich beweisen wollen. Absolute Höhepunkte waren Zusammenkünfte mit anderen „Junge Gemeinden“ aus Leipzig und Umgebung in und um das Rüstzeithaus Sehlis. Hier fanden wir all das, was ich viel später in meiner Dissertation zur Traditionspflege zum Ritual hervorgehoben habe: gemeinsame Bewegungen, Klänge (Glocken!), Farben, Musik – eine geballte Ladung von Emotionalität, die unweigerlich besonders beim „sinnsuchenden“ Jugendlichen ihre Wirkung hinterlässt. Mit stolzgeschwellter Brust wurden wir nach dem „Kond-Kreis“ (Konfirmanden-Kreis) in den „großen Kreis“ aufgenommen. Jetzt durften wir auch Pfarrer K. nach dem „großen Kreis“ nach Hause begleiten.

      Mit meiner Schulzeit in der EOS kamen dann andere Einflüsse zum denen der „Jungen Gemeinde“. Aber auch die „Junge Gemeinde“ in Volkmarsdorf befand sich auf einem absteigenden Ast. Es schlug wie eine Bombe ein, als bekannt wurde, dass Pfarrer K. sich mit einer jungen Frau aus dem „großen Kreis“ verlobt hatte. Damit änderte sich viel im Beziehungsgefüge. Nach meiner subjektiven Meinung spielte auch eine Rolle, dass die Verlobte jemand war, die wir bisher kaum wahrgenommen hatten.

      Der 17. Juni 1953 sollte eigentlich ein normaler Tag in meinem Schülerleben werden. Pikanterweise war für diesen Tag die Abschlussprüfung in „Gegenwartskunde“ angesetzt.

      Wir wurden in der Schule informiert, dass die Prüfung an diesem Tag nicht stattfinden würde. Gleichzeitig sprach es sich herum, dass in der Stadt „etwas los“ wäre. Abenteuerlustig wie wir waren, machten wir uns sofort auf den Weg, um „dabei“ zu sein. Die wirkliche Rolle dieses Tages habe ich erst viel später begriffen.

      Als erstes erlebten wir eine Menschenmenge am damaligen Ort der Kreisleitung der SED, Ernst-Thälmann-Straße / Ecke Elisabethstr. Die Kreisleitung war schon mächtig ramponiert. Eine Gruppe von ca. 8-10 Angehörigen der KVP (Kasernierte Volkspolizei) sollte die Kreisleitung verteidigen. Mit ihnen diskutierten, zum Teil handgreiflich, aufgebrachte Menschen. Einige KVP-Angehörigen beharrten auf ihren Auftrag, 2 nahmen ihre Gewehre und zerschlugen sie an der Bordsteigkante.

      Uns zog es weiter in die Innenstadt. An einigen Straßenbahnen stand in schneller Schrift geschrieben „Spitzbart, Bauch und Brille“ (Ulbricht, Pieck und Grotewohl) „sind nicht des Volkes Wille“. Die Gruppen von Menschen, die gleich uns unterwegs waren, führten uns von der Hauptstraße fort in eine Nebenstraße. Dort klaffte im Erdgeschoß eines Hauses ein riesiges Loch. Sowjetische Panzer hatten die Nebenstraßen benutzt, um möglichst unbemerkt in die Innenstadt zu kommen. Dabei war einer aus der Spur gekommen und mit dem Geschützrohr in der Wohnstube einer Familie gelandet.

      In der Innenstadt wurden wir an der Bezirksleitung der FDJ in der Ritterstraße Zeuge, wie sich der Zorn der Menschen an Sachen entlud. Schreibmaschinen, Akten, Schreibtische flogen aus den Fenstern auf die Straße. Wir wurden abgelenkt durch eine große Menschenmenge, die vom Augustusplatz her in Richtung Hauptbahnhof zog. Auf ihren Schultern trugen einige Männer zwei Tote. Wir erfuhren, dass sie in den Kämpfen am Geviert „Wächterburg“ erschossen wurden, wo die aufgebrachte Menschenmenge die Polizei und das Gefängnis gestürmt hatte, um die dort Eingekerkerten zu befreien.

      Die Menge zog hinunter zum Hauptbahnhofsvorplatz als von der Westseite des Bahnhofes her plötzlich sowjetische Panzer auf den Platz einschwenkten. Ihr MG-Feuer ging zwar über die Köpfe hinweg, aber die realen Einschläge in das Dach der Straßenbahn, in die wir „hineingehechtet“ waren, bewiesen uns, dass mit scharfer Munition geschossen wurde. Als uns der Ernst der Situation bewusst wurde, verdrückten wir uns doch lieber nach Hause. Meine Mutter war heilfroh, als ich wieder zu Hause war. Sie hatte wegen mir Todesängste ausgestanden.

      Die Gegenwartskunde-Prüfung wurde nie nachgeholt, aber der 17. Juni 1953 ermöglichte es mir, den Abkömmling des „Kleinbürgertums“, auf die EOS (Erweiterte Oberschule = Klassen 9-12) zu gehen. Vorher war ich wegen meiner „Herkunft“ abgelehnt worden.

      Mit dem September 1953 war ich also Schüler an der Nicolai-Oberschule. Auch wenn wir manchmal „Nickel-Töppe“ genannt wurden, waren wir doch stolz darauf, Schüler der ersten weltlichen Schule von Leipzig5 zu sein. Das galt besonders dann, wenn wir im Wettstreit standen mit den beiden anderen EOS im Stadtbezirk, der Richard-Wagner-EOS und der EOS Humboldt.

      Eine der ersten Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts war die Wahl der FDJ-Gruppen- Leitung der Klasse. Für mich völlig überraschend war die Entscheidung meiner Mitschüler, mich zum FDJ-Sekretär zu wählen. Dieses Votum tat meinem Selbstbewusstsein gut, also gab ich meinen Antrag zur Aufnahme in die FDJ ab.

      Mit meinen Klassenkameraden erlebte ich im Mai 1954 das Deutschlandtreffen der Jugend in Berlin. Romantisch war schon die Fahrt im „Vieh“-Waggon nach Berlin. Am Vortag war ich mit einer Art „Becker-Hecht“ beim 100-m-Lauf ins Ziel gekommen. Die Aschenbahn hinterließ deutliche Spuren auf meinem Bein von der Hüfte bis zum Knöchelgelenk. So hatte die unsere Hundertschaft begleitende Rote-Kreuz-Schwester immer etwas zu tun. In Berlin wurden wir von freundlichen Berlinern zur Übernachtung auf ihrem Dachboden empfangen.

      Seit diesem Treffen ist mir die „Knacker“-Wurst verleidet, weil in den Verpflegungsbeuteln für früh, mittags und abends mindestens eine zu finden war. Da die Nächte meist kurz waren, mussten wir uns auf der Rückfahrt ausschlafen. Dabei wären wir fast aus den offenen Schiebetüren „herausgerüttelt“ worden.

      Das nächste Deutschlandtreffen 1964 erlebte ich schon als