Niccoló und die drei Schönen. Gunter Preuß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunter Preuß
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Публицистика: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783957444752
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dich“, drohte Manuela, die auf dem Teppich kniete und den Kreidestrich mit einer Serviette wegzureiben versuchte. „Denke an deinen Hexenschuss und dass du dich manchmal kaum noch bewegen kannst.“

      „Nun ja“, sagte Balanca bedauernd. „Meine große Zeit ist wohl vorbei. Die Knochen werden langsam spröde. Aber hier drinnen“, – er klopfte sich auf die Brust, dass es dröhnte – „das Herz ist jedenfalls immer noch jung.“

      Niccolò spürte Balancas Hand kräftig und warm auf seiner Schulter. Er liebte seinen Großvater, manchmal sogar mehr als seine Mutter. Für Niccolò war Manuela oft eher wie eine große Schwester, die ihn mit ihrer Unruhe und ihren schnell wechselnden Meinungen verwirrte. Balanca aber behielt die Ruhe, wenn es um ihn herum auch noch so hektisch zuging. Mit schier endloser Geduld versuchte er, jedes Problem zu lösen.

      Für Niccolò war der Großvater noch kein alter Mann, obwohl er schon über sechzig Jahre alt war. Balanca trug zu seiner Strickmütze einen verwaschenen Pullover, darüber eine Schlosserkombi und ehemals weiße Basketballschuhe. Sein Gang war leicht und federnd, als liefe er noch immer sicher über ein Drahtseil. Niccolò wünschte sich, einmal so zu werden wie sein Großvater.

      Freddy Haubentaucher, der wohl zuviel Rotwein getrunken hatte, sagte weinerlich: „Ich würde ja doch gern den Einfingerstand sehen.“

      Manuela fuhr hoch und sagte scharf: „Halte du dich da raus!“

      „Aber ...“ Freddy Haubentaucher hob den Zeigefinger und schnippte mit Mittelfinger und Daumen.

      Manuela stand auf, sie war nicht groß, aber sie brachte es fertig, auch ohne Leibesfülle bedrohlich zu wirken. Sie hatte ihre Schönsprechstimme wohl vergessen, denn sie sagte auf Sächsisch: „Ich will davon nischt mär hörn! In meiner Wohnung gibt’s geen Einfingerschdand!“

      „Aber ...“ Freddy Haubentaucher verharrte halb aufgerichtet, die Hand hochgestreckt, wobei der Zeigefinger wie das nach oben gerichtete Pendel eines Metronoms hin und her klickte.

      „Ruhe!“, gebot Manuela mit Bassstimme. „Hier schbrischt geiner, der nichd zur Famielie gehörd!“

      Balanca lachte über die ungewollte Komik. Manuela fuhr gereizt zu ihm herum. Der Großvater hob die Hände, als würde er sich ergeben.

      Eine paar Sekunden war es still. Dann kroch zum dritten Mal ein „Aber ...“ aus Freddy Haubentauchers rotumfleckten Mund.

      Niccolò hätte gewettet, dass Manuelas neuer Freund nicht noch einmal zu widersprechen wagte. Mit jedem Aber nahm seine Abneigung gegen den Haubentaucher ab. Er nahm sich vor, im Lexikon nachzuschlagen, was für ein komischer Vogel das überhaupt war. Doch erst einmal hatte er sich eines Angriffs seiner Mutter zu erwehren. Die unvermeidliche Frage kam spät, aber sie kam: „Na sag mal: Wie siehst du denn eigentlich aus?“

      Zu spät bemerkte er Großvaters warnendem Blick, es rutschte ihm das Dümmste heraus, was man seiner Mutter in solcher Situation antworten kann.

      „Ich?“

      „Ja du! Schiele isch vielleichd? Oder schbresche ich edwa mid dem Bräsidenden von Ameriga? Vielleichd gar mit dem Babsd oder dem Dalai-Lahma?!“

      Schlagartig kehrte der Weltschmerz in Niccolò zurück. Ihm fiel wieder ein, wie seine Hypnoseversuche und Komplimente bei Paula Klette versagt hatten. Das Selbstmitleid überfiel ihn, er sagte traurig: „Du sprichst nur mit mir, Manuela. Rege dich bitte nicht so auf, Mama.“

      „Aber ich will mich aufregen!“, rief die Mutter, die nun wieder Hochdeutsch und zwischendrin auch Italienisch sprach, das sie seit ein paar Monaten zusammen mit Niccolò lernte. „Das kann mir schließlich niemand verbieten! Grazie a Dio viviamo finalmente in una democrazia!“

      „Was höre ich denn da?“ Freddy Haubentauchers Mund bildete ein tennisballgroßes Loch, in dessen Tiefe das rote Zäpfchen zuckte.

      „Ich sagte: Gott sei Dank leben wir endlich in einer Demokratie! Mamma mia, der Junge sieht aus, als käme er aus einem verdammten Krieg zurück!“

      „Wir haben nur ein bisschen Fußball gespielt. Nonè successo nulla, mamma. So gut wie gar nichts ist passiert.“

      Nun sprach auch Niccolò italienisch, denn damit konnte er die Mutter milder stimmen. Manuela schwärmte von Italien. Wenn sie einmal mit ihrem Brillenladen genug Geld verdient hätte, wollte sie mit ihrer Familie nach Italien ziehen und für immer dort leben.

      „Zeig mal her, Bambino. Nun hab dich nicht so. Tut weh, was. So was kommt doch nicht von eurer Kickerei. Du hast dich wieder verprügeln lassen, du dummer Junge. Für wen hast du denn diesmal den Kopf hingehalten?“

      „Beruhige dich doch, Tochter“, sagte Balanca. „Er lebt ja noch. Es ist ja nichts weiter passiert. Das heilt alles wieder.“

      „Nichts passiert?“, rief Manuela empört. „An dem Jungen ist kaum noch etwas ganz! Da redest du von nichts passiert! Ich habe dir doch gesagt, Niccolò – was habe ich dir gesagt? Sag es, los doch!“

      Niccolò antwortete widerstrebend: „Du hast gesagt, wenn ich einen Schlag bekomme, soll ich zweimal zurückschlagen.“

      „Und?“

      „Und wenn mir einer gegen den Fuß tritt, soll ich ihm zweimal gegen das Schienbein treten.“

      „Brutal. Das ist ja barbarisch!“ Freddy Haubentaucher stieß mehrmals hinter vorgehaltener Hand auf.

      Manuela rüttelte Niccolò an den Schultern, und sie führte ihm energisch, wenn auch wenig geschickt vor, wie er sich zu wehren hatte. „Du weißt doch, wie es geht! Warum tust du es dann nicht? Es ist eine harte Zeit. Wer nicht gewinnt, der ist der Verlierer. Wann begreifst du das endlich!“

      Auf ihrer Stirn standen winzige Schweißtropfen, ihre Lippen waren schmal gespannt und die Augen sprühten grün. „Nun antworte endlich! Sag mir, ob du es begriffen hast!“

      Niccolò zwang sich zu nicken. „Aber ...“

      „Es gibt kein Aber!“, rief Manuela. „Es gibt nur ein Da musst du durch! Was denkst denn du, wie ich in meinem Geschäft zu kämpfen habe. Gleich um die nächste Straßenecke ist noch ein Optiker. Ein paar Straßen weiter ein dritter. Die breiten sich aus wie Wühlmäuse. Jeder nennt sich die Nummer eins und tut so, als hätte er was zu verschenken. Sonnenbrillen und anderen Brillenschrott bekommst du jetzt auch noch in jedem Supermarkt und an jedem Kiosk zu kaufen. Und da hältst du still, wenn andere dich grün und blau prügeln!“

      Niccolò schüttelte den Kopf und sagte: „Ja ...“

      „Was, ja? Nun rede endlich, Junge! Sage mir, wer dich so zugerichtet hat?“

      Balanca zog Niccolò von seiner Tochter weg und sagte ruhig: „Du hast das gleiche Temperament wie deine Mutter, Manuela. Die gute Hanni, sie verlor auch so schnell die Beherrschung. Aber nur die Ruhe bringt’s, Tochter. Mit Gewalt geht schließlich alles kaputt.“

      „Nun komm du mir nur nicht mit deinen gesammelten Lebensweisheiten, Vater“, entgegnete Manuela. „Ich muss mir jeden Tag von meiner verehrten Kundschaft jede Menge schlaue Sprüche anhören.“

      Balancas Einwurf und seine beruhigende Stimme stimmten sie aber doch friedfertiger. Sie zuckte mit den Achseln und begann das Geschirr abzuräumen, pfiff ein paar Takte eines Schlagers, weinte und lachte abwechselnd.

      „So beruhige dich doch“, sagte Balanca. „Hast du wieder Ärger mit deinem Geschäft? Was ist denn?“

      „Nichts ist! Nichts, nichts, nichts!“

      Der Mutter rutschte ein Teller aus den Händen, den Balanca reaktionsschnell auffing und auf den Tisch zurückstellte. Manuela wandte sich ruckartig Freddy Haubentaucher zu und fauchte: „Sie gehen jetzt besser. Ihre Brille können Sie in einer Woche in meinem Fachgeschäft abholen. Arrivederci und Auf Wiedersehen, Signor Haubentaucher.“

      Manuela drängt den verdutzten Mann zur Haustür hinaus, die sie mit einem Knall schloss,