Günther Kühn hatte seinen Kompass vor sich auf dem Verdeck befestigt, doch es war unmöglich, die Nadel zu erkennen. Laut Gebrauchsanweisung hätte sie im Dunkeln leuchten müssen, doch das tat sie nicht. Irgend- wie musste Seewasser in das Gehäuse eingedrungen sein und die Phosphorbeschichtung angegriffen haben. Mond und Sterne waren hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden. Da hätte auch ein erfahrener Seemann den Kurs nicht halten können. Ihm war, als würden sie ständig im Kreis herumfahren.
«Da! Ein Hochhaus!», schrie Annegret Kühn.
«Mein Gott, das Hotel Neptun in Zinnowitz!» Dann waren sie also an Kap Arkona vorbei nach Osten abgetrieben worden und befanden sich jetzt dicht vor der Insel Usedom.
Kurz darauf erkannten sie jedoch, dass sie eine Fähre vor sich hatten, wahrscheinlich die von Warnemünde nach Gedser. Dann befanden sie sich also doch auf dem richtigen Kurs. Weiter!
Die Spanten und Streben ihres Faltbootes knarrten und ächzten. So elastisch die Hölzer auch waren, so viel die Konstruktion auch vertragen konnte, irgendwann würde alles brechen, so wie ein Bleistift brach, wenn man ihn über beide Daumen bog. Made in GDR.
Sie fühlten sich völlig hilflos, ihre Verzweiflung wuchs und wuchs. Sie verfluchten ihre Entscheidung, die Flucht über die Ostsee zu wagen, und hätten Jahre ihres Lebens dafür gegeben, jetzt in ihrer Dachkammer zu liegen, sich aneinanderzukuscheln und zu träumen. Von der Flucht im Faltboot.
Von Süden her drangen Motorengeräusche zu ihnen herüber. War es ein Boot der Grenzbrigade Küste, das sie hoppnehmen wollte? Waren es Fischer oder Privatleute aus Dänemark oder der BRD, die sie an Bord nehmen würden? Die Suchscheinwerfer, die nun eingeschaltet wurden, gaben eine eindeutige Antwort. Doch sie hatten Glück: Immer wenn die Lichtfinger sie zu erfassen drohten, tauchten sie in ein Wellental hinab. Die Motorengeräusche wurden schwächer und schwächer. Weiter!
Ihre Erschöpfung wuchs von Minute zu Minute, die Arme schmerzten. Lange waren diese Strapazen nicht mehr auszuhalten. Aber hörten sie auf zu paddeln, waren sie im Nu ein Opfer der Wellen.
Sie fühlten es: Der Tod war nahe. Günther Kühn konnte an nichts anderes mehr denken. Wir sind alle des Todes. Sei des Todes eingedenk! Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?
Wieder beteten sie.
«Wende dich, Herr, und errette meine Seele; hilf mir um deiner Güte willen!»
«Herr, erhöre die Gerechtigkeit, merke auf mein Schreien, vernimm mein Gebet, das nicht aus falschem Munde geht!»
Ihnen blieb nichts weiter übrig, als auf ein Wunder zu hoffen: dass plötzlich der Nebel aufriss und sie die Kreideküste von Møn vor sich hatten. Oder das Feuerschiff von Gedser. Oder ein Motorboot aus der BRD. Wunder gab es immer wieder …
Als sie schon glaubten, es doch noch geschafft zu haben, traf sie eine ungewöhnlich hohe Welle auf der Backbordseite und begrub sie unter sich. Eine Eskimorolle hätte sie noch retten können, aber die hatten sie nicht eingeübt.
In den Akten der Volkspolizei und der Grenzbrigade Küste finden sich einige Tage später folgende Eintragungen:
Durch den Stralsunder Fischkutter STR 173 wurde beim Hieven des Grundschleppnetzes am 19. Mai 1972, 10 sm nordwestlich von Kap Arkona, eine männliche Leiche geborgen. Die in der Hosentasche gefundene Geldbörse enthält einen Lohnstreifen auf den Namen Günther Kühn.
Am 24. Mai 1972 gegen 11.30 Uhr wurde durch den DDR-Logger ROS-104 – 17 sm nördlich von Mövenort – nach dem Einholen des Fanggeschirrs eine weibliche Leiche festgestellt.
Die MfS-Mitarbeiter sprechen den Angehörigen von Günther und Annegret Kühn gegenüber von einem Badeunfall.
ZWEI
Mai 1972
RAINER ERKENBRECHER fand zu seiner großen Überraschung sofort einen freien Parkplatz im Innenraum des großen U, das die kolossalen Gebäude des Zentralflughafens Tempelhof bildeten, kam man vom Platz der Luftbrücke und wollte in die Abflughalle. Wie immer war er begeistert von diesem innerstädtischen Flughafen, und es erfüllte ihn mit leiser Wehmut, dass Tempelhof in zwei Jahren geschlossen und der gesamte Flugverkehr bis auf den der US Air Force über Tegel abgewickelt werden sollte, wo die Bauarbeiten kräftig vorangetrieben wurden.
Jedes Mal, wenn er die Abflughalle betrat, hörte er förmlich eine Schicksalsmelodie aufbranden: Hier empfängt Berlin die Großen der Welt, und von hier aus kannst du, frei wie ein Vogel, in alle Welt fliegen, wann immer du willst. Er hörte Ernst Reuter plädieren: Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt, und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und könnt! Er hörte John F. Kennedys berühmte Worte: Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: «Ich bin ein Bürger Roms!» Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann: «Ich bin ein Berliner!» Und er hatte auch genau im Kopf, was in Curt Riess’ Buch Berlin Berlin geschrieben stand: Wenn die Russen damals hätten marschieren wollen, hätte nichts sie daran hindern können, bis zum Kanal, zum Atlantischen Ozean oder auch zu den Pyrenäen vorzustoßen. Nichts – außer Berlin.
An diesem Gefühl von historischer Größe und Einmaligkeit konnte sich Erkenbrecher wie jeder West-Berliner immer wieder berauschen. Schön, man war eingemauert und abgeschnitten vom märkischen Umland, aber man gehörte zu den Helden der Weltgeschichte und lebte in der interessantesten Stadt der Welt, irgendwie auf einer Insel der Seligen, war das «Schaufenster der freien Welt», wurde reichlich alimentiert und konnte das alternative Leben zulassen, das sich im Schatten der Mauer zu entwickeln begann. West-Berlin war ebenso spießbürgerlich wie irre und surrealistisch, einmalig eben.
Rainer Erkenbrecher, am 20. Mai 1946 in Berlin zur Welt gekommen, war klein und drahtig, so ein Terrier wie Berti Vogts. Immer überdreht, wieselte er durch die Straßen und Flure. Zu übersehen war er schon, aber nicht zu überhören. Er redete andauernd, am liebsten über seine Heldentaten. Aus der Angst heraus, nicht wahrgenommen zu werden, hatte er ständig Dutzende von Projekten am Köcheln. Etwas anleiern nannte er das. Mal gründete er einen neuen Kinderladen, mal eine Stadtteilzeitung, mal einen Tennisverein, mal eine neue linke oder linksliberale Studentenvereinigung. Sein Verhalten war aber nicht nur mit seiner geringen Körpergröße zu erklären, sondern auch mit seinem verzweifelten Bemühen, aus dem Schatten seines übermächtigen Vaters und seiner Mutter zu treten.
Ernest Erkenbrecher war Professor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in der Hardenbergstraße und eine feste Größe im Kulturbetrieb. Es gab kein Kuratorium, in dem er nicht saß, und er war Duzfreund vieler Senatoren und erlesener Schöngeister. Zudem konnte er Essays verfassen wie kein Zweiter. Um gegen diesen Vater eine Chance zu haben, musste sich Rainer Erkenbrecher schon viel einfallen lassen.
Auch seine Mutter, Oberstudienrätin für Chemie und Mathematik an einem Steglitzer Gymnasium, setzte ihm mit ihrem Bildungsfimmel gehörig zu und hielt ihn schon deswegen für geistig zurückgeblieben, weil er nie recht begriffen hatte, wozu ein Algorithmus oder die Primzahlen gut sein sollten.
Das Abitur hatte Rainer Erkenbrecher nur mit Ach und Krach geschafft, dann in seinem Politologiestudium an der FU Berlin jedoch so viel geleistet, dass sie ihn nach dem Diplom zum Assistenten gemacht hatten. Nun war er zwar kein echter Linker, sondern fühlte sich eher als freischwebender Intellektueller mit einem Hang zum Liberalen, wenn nicht gar zum Konservativen,