Ich!, hätte Otto Kappe jetzt sagen können. Die Papiere waren doch das Wichtigste, was ein Mensch besaß. Wie waren solche sorglosen Zeitgenossen wie diese Roeders über den Krieg gekommen?
«Hätte das Feuer nicht auch eine Kassette ausgeglüht?», gab Frau Roeder mit einem Augenaufschlag zu bedenken, der Kappes Misstrauen neue Nahrung gab. Viel Tränen waren bei ihrem Aufschluchzen nicht geflossen, konstatierte er.
«Na gut, das finden wir ja alles in den Unterlagen», sagte er, was sie zu erstaunen schien.
Irritiert fragte sie: «In welchen Unterlagen?»
«Sagten Sie nicht, Sie hätten das Anerkennungsverfahren für politische Flüchtlinge absolviert? Außerdem muss Ihr Mann ja beim Finanzamt und bei einer Versicherung gemeldet sein. Das ist also kein Problem.»
Ihre unsichere Miene verriet Kappe, dass es eines werden konnte. «Bei welcher Krankenkasse war er denn versichert?», erkundigte er sich vorsichtshalber.
Sie hob die Schultern. «Er war nie krank.»
Kappes Hände umfassten die Schreibtischkante. «Wollen Sie damit andeuten, er sei nicht versichert gewesen?»
Sie riss die Augen weit auf. Die verlaufene Schminke gab ihrem tragischen Blick zugleich etwas Dämonisches. «Um so etwas habe ich mich nie kümmern müssen», entgegnete sie.
Kappe glaubte, eine Spur von Arroganz herauszuhören, die ihn erboste. «Aber Steuern wird er doch wohl gezahlt haben!», stellte er in einem Ton fest, den er bisher sorgsam vermieden hatte – und der bei ihr schlecht ankam.
Im gleichen herablassenden Ton sagte sie: «Wie ich bereits andeutete, habe ich mich um so etwas nie kümmern müssen.»
«Sie haben keine eigenen Einkünfte?»
Sie zögerte. «Nein, nicht direkt. Ist daran etwas auszusetzen?»
«Natürlich nicht. Welcher Tätigkeit ist Ihr Mann nachgegangen?»
«Er ist … er war Künstler. Er … hat gemalt.» Sie schnäuzte sich umständlich. «Seine graphischen Arbeiten fanden bei Sammlern reges Interesse.»
«Er hat also nicht in seinem Beruf als Volkswirt gearbeitet, sondern von der Malerei gelebt?», vergewisserte sich Kappe.
«Ja. Er hat hin und wieder etwas verkauft. Nötig war das eigentlich nicht, wir haben ja die Unterstützung meiner Familie.» Ihr Blick erschien ihm jetzt beinahe treuherzig. «Ich entstamme einer wohlhabenden Reederfamilie. Besonders der Hamburger Zweig ist recht vermögend.»
«Ich verstehe», sagte Kappe, obwohl er keineswegs verstand, welches Glück manchen Leuten beschieden war. Eine reiche Familie, keine Steuern und ein bisschen Farbenkleckserei, ein Häuschen im Grünen, ein Auto und eine schöne Frau – da kam kein gewöhnlicher Kriminalbeamter mit. Obwohl sich wenigstens seine Gertrud vor so einer Schmarotzerin nicht zu verstecken brauchte. Es gab genügend Männer, die ihn mit Recht um sie beneideten. «Na schön. Auf Ihre Vermögensverhältnisse kommen wir noch zurück», sagte er. «Wenden wir uns der äußerlichen Beschreibung Ihres Mannes zu. Wie groß war er?»
«1,79 Meter.» Sie dachte einen Augenblick nach. «Das hat er jedenfalls immer gesagt. Vielleicht war er auch zwei, drei Zentimeter kleiner.» Wieder so ein Augenaufschlag. «Er hielt sich immer sehr aufrecht, um groß zu wirken. Ist das so wichtig?»
«Sehr wichtig. Wir müssen den aufgefundenen Körper eindeutig identifizieren.» Er vermied das Wort Leiche. Den Anblick würde er ihr nicht ersparen können.
Sie sah ein wenig blass aus um die Nase und senkte den Kopf. «Schrecklich!», stöhnte sie.
«Sein Gewicht?»
Sie blickte auf. «Wissen Sie, was Sie mir zumuten?», fragte sie anklagend. Ihre Stimme wurde lauter. «Mein Mann ist heute Nacht auf entsetzliche Weise zu Tode gekommen, und Sie fragen nach seinem Gewicht! Er war ein ganz normaler, gutaussehender, schlanker Mensch! Genügt Ihnen das?»
Es genügte Kappe nicht, doch beharrte er nicht auf einer exakten Antwort. Nicht in dieser Situation, in der sich die Frau nur unnötig aufregte. Begütigend hob er die Hand und fragte: «Bei welchem Zahnarzt war er in Behandlung?»
«Zahnarzt?», fragte sie gedehnt zurück. «Was soll das nun wieder? Er hatte gesunde Zähne und brauchte keinen Zahnarzt!»
Kappe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Allmählich wurde die Angelegenheit mysteriös. Ein malender Volkswirt ohne Papiere, der keine Steuern zahlte und keinen Zahnarzt benötigte. Hatte es diesen Mann überhaupt gegeben? Wenn nicht – um wen handelte es sich dann bei der Leiche?
Immerhin hatte der Tote eine trauernde Witwe hinterlassen, die leibhaftig und nicht ohne Attraktivität vor ihm saß und deutliche Anzeichen von Unmut verriet. Zu ihrem Alibi für den vergangenen Abend hatte er sie noch nicht befragt. Es war überhaupt allzu viel offen in diesem Fall, für den die Mordkommission bis jetzt nur deshalb zuständig war, weil er Bereitschaft gehabt und die ersten Untersuchungen am Auffindungsort der Leiche geführt hatte. Weshalb wartete er nicht einfach das Ergebnis der Obduktion ab? Der Brand war ein bedauerlicher Unfall, um den sich die Gutachter der Versicherung kümmern würden. Dass es eine Lebensversicherung von Ronald Roeder zugunsten seiner Frau und eine Police für das Haus gab, hatte Verena Roeder ihm noch in der Nacht am Brandort bestätigt. Da sie noch nicht genau gewusst hatte, wo sie unterkommen würde, hatte er sie für den Nachmittag zu einer ersten Befragung ins Landeskriminalamt bestellt.
Kappe erhob sich und sagte gemessen: «Ich möchte Ihre Geduld und Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Es wird sicherlich noch die eine oder andere Frage zu klären sein. Deshalb ist es unumgänglich, dass Sie zu erreichen sind.»
Kappe merkte ihr die Erleichterung an, als sie aufstand. Er reichte ihr den leichten Sommermantel vom Kleiderhaken und wartete höflich, bis sie hineingeschlüpft war. Sie war einen halben Kopf kleiner als er und roch nach einem teuren Parfum. Keine Spur von Rauch. Sie musste ihre Haare gründlich gewaschen haben.
«Ich habe vorläufig in der Pension Rosenkranz in der Potsdamer Straße Unterkunft gefunden», sagte sie. «Adresse und Telefonnummer notiere ich Ihnen.»
Während sie schrieb, gestattete sich Kappe einen letzten Blick auf ihre Waden. Weshalb es eine solche Frau aus Frohnau ausgerechnet in die übelbeleumdete Potsdamer Straße zog, war ihm schleierhaft. Zuvorkommend geleitete er sie durch das Vorzimmer und verabschiedete sie mit einer gemessenen Verbeugung.
Als er sich umwandte, blickte er in die grinsenden Gesichter seiner Kollegen Günter Kynast und Jürgen Rückert. Kynast, allemal der Dreistere von beiden, verkniff es sich nicht einmal, anzüglich das Gesicht zu verziehen und so etwas wie «Glücklicher Witwentröster» zu murmeln.
Das war selbst Rückert zu viel. «Wenn du mal im Dienst erschossen wirst», bot er Kynast hinterhältig an, «übernehme ich die Tröstung sämtlicher deiner Flammen. Einverstanden?»
Kynast salutierte militärisch. «Einverstanden, Herr Oberleutnant!» Er liebte es, Rückerts Hang zum Militärischen zu karikieren. Lachend fügte er hinzu: «Aber schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch! Mehr als ’ne Woche gibt dir Keunitz bestimmt nicht frei.»
Kriminalrat Keunitz war der Leiter des Referats M, zuständig für alle Tötungs- und Sittlichkeitsdelikte, und damit ihr Vorgesetzter. Otto Kappe wusste, wie der zu nehmen war, und kam einigermaßen gut mit ihm aus. An Günter Kynast aus Neukölln, von Otto gern als James Dean von Rixdorf tituliert, missfiel ihm dagegen die amerikanischen Filmschauspielern abgeguckte Lässigkeit. Seit Lilli Lenné, die jugendliche Schönheit der Truppe, zum Lehrgang in Westdeutschland weilte, artete sein Ton ein wenig aus.
«Euch steigen wohl die linden Maienlüfte zu Kopf», knurrte Kappe. Er war müde und wurde das Gefühl nicht los, immer noch wie ein Scheiterhaufen zu riechen. Dabei hatte er am Morgen länger als gewöhnlich geduscht. «Habt ihr nichts zu tun?»
Kynast zog den sorgfältig