«Wieso fragen Sie so seltsam?», erkundigte sich Weißbrod. Da läutete der Gerichtsdiener. «Ah, es geht weiter.»
Marie schaute sich um. Wo blieb Corvus nur?
Ostertag lächelte. «Machen Sie sich keine Sorgen, das schaffen Sie! Was ist, John, treffen wir uns nach Abschluss des heutigen Prozesstages mit der jungen Dame in der Gerichtslinde? Schräg gegenüber in der Turmstraße. Dann kann ich ihr alle Fragen beantworten. Sie zieht ein Gesicht, als habe sie noch viele.»
John Weißbrod grinste. «Aber klar doch!»
In Marie machte sich trotz der Enttäuschung, dass sie den Mann, der Dieter Krug hieß, nun doch nicht sehen würde, eine gewisse Erleichterung breit. Wenigstens würde sie alles erfahren, was sie wissen musste, um einen guten Bericht zu schreiben. Und das auch noch aus erster Hand. Vielleicht konnte sie den Verteidiger auch bitten, für sie ein Gespräch mit seiner Mandantin zu arrangieren. Krug und Sigrid Dehne kannten sich angeblich. Also konnte diese ihr vielleicht weiterhelfen.
Der Saal, in dem die 5. Große Strafkammer tagte, war bis auf den letzten Platz besetzt. Aber auch eine halbe Stunde nach Weiterführung der Verhandlung war noch immer kein Corvus erschienen. Marie musste an den Rat denken, den ihr der Kolumnist Hans Neuhaus von der Redaktion des Berlin-Teils des Tagesspiegel gestern mit auf den Weg gegeben hatte: «Sie sollten sich mal im Archiv schlaumachen, Fräulein Palmer! Damit Sie wissen, wohin Sie müssen. Das ist schon ein besonderes Haus, das Moabiter Kriminalgericht. Fragen Sie den Kollegen Corvus, der kann Ihnen allerhand erzählen. Aber damit das klar ist: Sie arbeiten ihm nur zu! Sie können ja schon mal ’n bisschen texten, und wenn der Corvus sagt, es ist gut, dann stimmen Doktor Ewald Weitz als Leiter des Berlin-Teils und Chefredakteur Reger – ich meine das genau in dieser Reihenfolge – vielleicht zu, dass wir Teile ihres Geschreibsels in Corvus’ Bericht übernehmen. Versprechen Sie sich jedoch nicht zu viel!»
Geschreibsel! Hielt dieser Neuhaus sie für eine Analphabetin? Marie schwor sich, dass sie es allen beweisen würde. Sicherheitshalber war sie tatsächlich gestern noch nach Moabit gefahren, um sich das Gebäude des Kriminalgerichtes anzuschauen. Sie wollte wissen, in welchen Saal sie am nächsten Morgen musste, damit sie nicht zu spät kam, weil sie sich in dem riesigen Gebäude verlaufen hatte. Schon als sie durch die kolossale Haupthalle gegangen war, 29 Meter hoch, 3 Meter höher als das Brandenburger Tor, wie sie inzwischen wusste, hatte sie sich eingeschüchtert gefühlt. Ein netter Gerichtsdiener, den sie zufällig im Gang traf und der Corvus gut zu kennen schien – «Na, denn grüßen Sie den Meesta ma von mir!» –, hatte nämlich den Aktenstapel, mit dem er unterwegs war, schnell wieder in seinem Büro deponiert und sich Zeit genommen, der neugierigen Besucherin freimütig Auskunft zu geben. Er war unverkennbar stolz auf seinen Arbeitsplatz. Marie blätterte in ihrem Block zurück. Sie hatte eifrig stenografiert. «Wenn das größte Gericht Europas werktags gegen acht Uhr erwacht, treten unzählige Wachtmeister, Schreibkräfte, Putzfrauen, Kanzleiangestellte, Sachverständige, Archivare, Dolmetscher, Köche, Pförtner und viele, sehr viele studierte Juristen, Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Nebenkläger ihren Dienst an.»
Jedenfalls war das Gebäude imposant. Das Haus blickte aus 158 Fenstern auf die Berliner Turmstraße. Als es um 1906 fertig dagestanden hatte, war es laut Maries Fremdenführer eines der ersten offiziellen Gebäude Berlins mit elektrischem Licht gewesen. «Fünftausend Glühlampen, sach ick Ihnen, da ist immer eine hin», hatte der Gerichtsdiener gesagt. Und es gab offenbar nichts zwischen Betrügereien, Sexualdelikten sowie Mord und Totschlag, was hier nicht schon vor den Richter gekommen wäre. Die Delinquenten wurden sauber abgeschirmt von der Welt, durch Geheimgänge vorgeführt, die das Gebäude wie Innereien durchzogen. Die riesige Haupthalle war von einem Reigen allegorischer Skulpturen bevölkert. Besonders die Figur der Lüge rechts in der Halle war Marie aufgefallen, wie sie, in Sandstein geschlagen und mit dem Fuchskopf bekrönt, hinter vorgehaltener Hand zur Streitsucht hinüberzischte. Aus deren Kopf hatte der kaiserliche Bildhauer Schlangen mit aufgesperrten Rachen wachsen lassen.
Maries Gedankenfluss wurde unterbrochen, denn der Gerichtsdiener rief jetzt diesen netten Kommissar Kappe als Zeugen auf. Corvus war noch immer nicht aufgetaucht. Ah, wenigstens redete der nette Kommissar laut und deutlich. Er sagte aus, was Marie schon vorher persönlich von ihm gehört hatte.
«Was ist Ihre Einschätzung? Glauben Sie, dass die Angeklagte etwas mit der Gladow-Bande zu tun hat?», fragte der Verteidiger.
«Einspruch!», meinte der Staatsanwalt. «Was Kriminaloberkommissar Kappe glaubt, ist hier nicht von Belang. Hier zählen nur Fakten.»
Der Vorsitzende Richter beugte sich vor. Marie notierte sich, dass sie noch nach seinem Namen fragen musste. «Namen sind wichtig, Regel Nummer eins», hatte Neuhaus ihr gestern in seinem Schnellkurs in Sachen Journalismus noch eingebleut und hinzugefügt: «Richtig geschriebene Namen. Lassen Sie sich alles buchstabieren! Immer! Auch wenn Sie meinen, Sie wissen, wie ein Name geschrieben wird. Das sind wir unseren Lesern schuldig. Da fängt die Glaubwürdigkeit einer Zeitung an, an solchen Sachen wird sie gemessen.»
«Einspruch abgelehnt», meinte der Richter. «Ich kenne Kriminaloberkommissar Kappe als erfahrenen Ermittler und vertraue seinen Einschätzungen. Haben Sie noch etwas dazu zu sagen, Herr Kriminaloberkommissar?»
Der Staatsanwalt zog ein beleidigtes Gesicht, der Verteidiger ein zufriedenes, und Kappe antwortete: «Ich habe jedenfalls nichts Nachteiliges und schon gar keine solche Vorgeschichte über die junge Dame herausfinden können. Gut, sie trifft in ihrem Beruf viele … Herren. Darunter sind sicherlich auch solche, die es mit unseren Gesetzen nicht so genau nehmen. Aber so, wie ich sie kennengelernt habe, ist sie ein anständiges Mädchen.»
«Ein anständiges Mädchen – dass ich nicht lache!» Die Stimme des Staatsanwaltes klang sarkastisch.
«Im Zweifel für die Angeklagte, Herr Kollege», meinte Verteidiger Peter Ostertag.
«Die Plädoyers sind jetzt noch nicht an der Reihe, Herr Doktor Ostertag», pfiff ihn der Richter zurück. «Außerdem fälle ich das Urteil. Und Sie werden mir wohl die Kenntnis der Gesetze zugestehen, oder?»
Peter Ostertag lief hochrot an. Marie begriff, dass er gerade gehörig in den Senkel gestellt worden war. Offensichtlich sah es der Richter als seine Aufgabe an, den Jungspunden vor Gericht gleich klarzumachen, wo hier der Hammer hing.
Gerade als sie das dachte, riss ein Gerichtsdiener die Türe auf. «Kommissar Kappe soll sofort kommen, ein aktueller Fall!», rief er in den Saal, ging dann zum Richtertisch und überreichte ein Schreiben. «Das kommt direkt aus der Friesenstraße.»
Der Vorsitzende Richter überflog es und nickte. «Dringliche Bitte des Polizeipräsidenten. Herr Kriminaloberkommissar, draußen warten zwei Herren auf Sie. Dann vertagen wir auf morgen. Acht Uhr, selber Ort. Und seien Sie bitte pünktlich, damit wir gleich als Erstes mit Ihrer Zeugenvernehmung weitermachen können!»
Marie schaute nachdenklich zu, wie der Kommissar aus dem Saal stapfte. Sie musste unbedingt noch einmal mit diesem Kappe reden. Vielleicht konnte er ihr in eher privatem Rahmen mehr zu diesem unvermittelt aufgetauchten Belastungszeugen namens Krug sagen. Andererseits – wieso auf morgen warten? Hier tat sich etwas Ungewöhnliches mehr. Und war sie nicht seit Neuestem Reporterin beim Tagesspiegel? Den Verteidiger konnte sie auch morgen noch treffen. Sollte doch dieser Corvus die notwendigen Fakten zusammensammeln! Irgendwann musste der ja vom Zahnarzt zurückkommen. Sie würde später versuchen, beim Tagesspiegel anzurufen und zu sagen, dass der Prozess vertagt worden war. Marie stand auf, warf John Weißbrod einen unschuldigen Blick zu und eilte aus dem Saal.
KAPITEL DREI
in dem Kappe sich mehrfach wundert
KAPPE besah sich den Toten auf dem Trümmergrundstück an der Wollankstraße. Die Haut hing ihm in Fetzen vom Gesicht, die Züge