Viviane scheuchte eine Schar Hühner aus dem Weg und rief: „Das gilt mir! Ich habe zwar gestern niemanden gesehen, der meine Hilfe nötig gehabt hätte, aber wer weiß, was da passiert ist! Es hört sich jedenfalls so an, als könnte ich deine Hilfe gebrauchen, Hanibu.“
Hanibu zäumte Dina in Windeseile wieder auf, Viviane ihren großen Arion. Dabei hielt sie ihr Kressebrot zwischen den Zähnen, weil sie es auf die Schnelle nicht weglegen wollte. Arion schnappte einmal zu und grinste sie aus seinem Pferdegesicht schelmisch an. Viviane ließ die Zügel los und stemmte die Hände in die Hüften, da sprang der Schalk auch in ihre Augen. Sie tätschelte seine Nüstern und kraulte ihn hinter den Ohren, während sie ihm das Zaumzeug überstreifte.
„Du bist scheinbar der einzige Mann, der sich um meine Figur sorgt. Silvanus hält mir immerzu was Essbares unter die Nase und schaut nach, wie lange meine Bauchmuskeln noch durchhalten.“
Arion schnaubte und kaute gemächlich weiter.
„Ganz recht. Ich will ja nicht auseinandergehen wie Brotteig. Da es dir so gut schmeckt, gebe ich dir natürlich gerne was ab, wenn ich wieder Kressebrot habe, aber sei froh, dass es kein frisch gebackenes Brot war, Arion. Sonst würdest du bald Bauchschmerzen bekommen und wer würde dich da wohl verarzten müssen, na?!“
Arion schnaubte wieder, schluckte und Viviane schwang sich auf seinen Rücken. Nebenbei bemerkte sie, dass auch Dina zufrieden kaute und Hanibus Hände brotlos waren.
„Und jetzt wie Bruder Wind zum Uhsineberga!“
Arion preschte vorneweg, Dina galoppierte hinterher, wild flatterten die Haare der Pferde und Frauen im Wind. Ohne Streitwagen waren sie viel schneller wieder oben auf dem Berg und sahen schon von Weitem eine alte Frau vor dem Burgtor stehen. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen und knetete ihre Hände. Beim Näherkommen gewahrten sie ihr verweintes Gesicht, bevor sie sich tief und lange verbeugte.
Der Wächter nahm ihnen die Pferde ab und Viviane lief mit Hanibu eilig neben der Frau her. Nach zwei Versuchen gab sie es allerdings auf, die alte Frau nach dem Problem zu fragen, da sie kein ordentliches Wort herausbrachte und nur wehklagte, während sie mit kleinen Schritten an den einfachen Häusern der Handwerker vorbei trippelte, hoch zu den größeren der Krieger, bis sie vor einer Tür anhielt und sich wieder tief verbeugte.
Viviane und Hanibu traten ein und wussten sofort Bescheid.
Eine junge blonde Frau saß auf dem Strohlager und krümmte sich wimmernd. Ihr Unterkleid und das Laken waren blutverschmiert. Ein kleiner Junge klammerte sich an ihren Arm und schluchzte jämmerlich.
„Tinne, jetzt doch noch nicht! Es sollte doch erst in zwei Monden kommen!“, rief Viviane, ging schnell die paar Schritte zum Lager und fasste nach ihren Händen. Doch Tinne stöhnte nur und krümmte sich noch weiter vor.
Viviane sah Hanibu an und schüttelte den Kopf. Die alte Frau schnappte laut nach Luft, doch Viviane herrschte sie an: „Ich brauche heißes Wasser!“
„Es ist …“, sie schniefte und wischte sich die Augen, „ … nur noch ein bisschen Wasser da, hohe Dru …!“
Viviane fauchte: „Bei allen Göttern! Dann schaff es bei, Weib! Du hattest Zeit genug!“ Die Frau stand stocksteif. Erschaudernd griff sie nach zwei Holzeimern und schlurfte benommen zur Tür hinaus. Hanibu überlegte nicht lange und rannte ihr nach. Viviane redete unterdessen beruhigend auf Tinne ein, wusch sich die Hände, träufelte Essig darauf und untersuchte Tinne. Mit dem bisschen Wasser, das übrig war, bekam sie gerade noch das Blut von den Händen und strich dem kleinen Jungen sanft über den blonden Schopf. Er hörte sofort auf zu weinen und lächelte zaghaft.
Viviane setzte sich neben ihn, hob ihn auf ihren Schoß und strich ihm wieder über das Haar, die Schläfen, die Stirn. Ihre andere Hand streichelte langsam über seinen Unterarm. Leise fing sie an zu reden.
„Tinne, hör mir zu. Der Kopf ist schon durchgetreten, da kann ich nicht mehr schneiden. Aber eine normale Geburt ist zu schwer für ein so früh Geborenes. Es wird wohl nicht überleben.“
Tinne presste sich die Hände auf den Bauch und keuchte: „Dieses Kind … ist das einzige, was mir … von German geblieben … ist.“
„Du machst das genau richtig, Tinne“, lobte Viviane und massierte ihr den Rücken. Zärtlich strich sie ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sagte ganz ruhig: „Vielleicht ist uns Epona freundlich gesonnen und wir haben Glück. Du hast ja schon einmal geboren. Wenn es stark ist, dann könnte es gelingen. Knie dich auf die Bastmatte und halt dich an der Truhe fest, so rutscht es leichter. Komm, ich führe dich.“
Tinne fasste nach Vivianes dargebotener Hand und sah ihr fest in die Augen.
„Wenn die Götter dieses Kind am Leben lassen, opfere ich ihnen den Armreif, den mir German zu Beltaine geschenkt hat.“ Sie horchte in sich hinein, umfasste ihren Bauch und begann wieder zu atmen, tiefer, kraftvoller, verbissener.
Viviane massierte ihren Rücken und wartete, bis sie sich vollends entspannt hatte, dann stand sie mit dem Jungen im Arm auf und zog Tinne vom Lager hoch.
„Der silberne mit den eingefassten Korallenstücken?“, fragte sie ganz ruhig und nickte bedächtig. „Ja, das wäre wirklich eine angemessene Opfergabe.“
Die Tür ging vorsichtig auf und die Frauen kamen mit den Wassereimern herein. Viviane drückte der Alten den kleinen Jungen in die Arme, schob sie wieder zur Tür hinaus und wirbelte zu Tinne herum, die sich an der Truhe festklammerte und mit schmerzverzerrtem Gesicht lautstark presste.
„Hecheln, Tinne!“, rief Viviane in scharfem Ton und kniete sich neben sie. „Nicht pressen! Du darfst noch nicht nachgeben!“
„Geht … nicht!“, keuchte Tinne und versuchte zu gehorchen, aber der Drang war stärker und sie schlug die Zähne aufeinander, krampfte sich zusammen.
„Denk an dein Kind und hechle!“, befahl Viviane, drückte Tinne die Finger in den Rücken und flüsterte in ihr Ohr: „Lass es von alleine rutschen! Ganz sanft! Es soll leben! Drück erst, wenn ich es sage! Denk an German, wie er sich freut! Wie er wieder zu dir zurückkommt! Schau in seine Augen!“
Hanibu beobachtete vom Ofen aus, wie sich Tinne zusehends entspannte und unter Vivianes Kommando zu hecheln begann und war sich sicher, im Rhythmus ihrer schnellen Atemzüge die Worte ‚seine Augen‘ zu verstehen. Tinne schrie es sogar laut heraus, als sie endlich pressen durfte, und Viviane jauchzte dazu: „Es hat auch die dunklen Haare von German geerbt! Gleich kannst du es selbst sehen! Ein Mal noch pressen!“ Als Tinne das hörte, lachte sie laut auf, holte tief Luft und presste mit aller Kraft und Viviane schrie: „Mehr! Noch mehr!“, da hielt sie auch schon das Baby in den Armen.
„Du hast eine ganz prächtige Maid geboren, Tinne“, sagte sie mit hörbarer Anerkennung und schlug das Baby schnell in das Tuch ein, mit dem sie es aufgefangen hatte. Auffordernd nickte sie Hanibu zu.
Hanibu wollte gar nicht hinsehen, aber sie sollte ja die Nabelschnur durchschneiden. Und dann war sie richtig erstaunt, als sie ein ganz normales Baby vor sich hatte, nur viel kleiner und von einer dicken Schicht Käseschmiere umhüllt. Viviane legte es auf die saubere Seite vom Lager und holte ein Röhrchen aus ihrer Tasche. Das steckte sie der Kleinen erst in die Nase, dann in den Mund und saugte den Schleim aus den Atemwegen heraus. Nach einem kleinen Klaps quäkte sie leise.
Viviane hielt die Hand hin und Hanibu legte ihr ein feuchtes, lauwarmes Tuch hinein. Damit wischte sie ganz vorsichtig das Blut von der Kleinen und wickelte sie in Tinnes Wolldecke, bis nur noch das winzige Gesichtchen herauslugte.
Tinne sah zu. Dafür musste sie sich fast verrenken, weil sie immer noch vor der Truhe kniete. Tränen schwammen in ihren Augen.
Als die Nachgeburt herauskam, kümmerte sich Hanibu um Tinne. Viviane ging derweil im Haus umher und schüttelte immer wieder unzufrieden den Kopf. Seufzend zog sie ihr Übergewand aus, hielt es vor das Baby und beugte sich schützend