Loranthus schielte zu Viviane und ein Zittern erfasste seinen ganzen Körper.
Er sah plötzlich die verzerrten Gesichter der Toten vor sich. Jede Nacht träumte er nun schon von ihren Wunden, fühlte ihre Schmerzen, und es wären noch viele viele mehr gewesen, wenn Hall nicht gekommen wäre. Sollte er irgendwann einmal jemandem erzählen, was er alles gesehen hatte … wirklich alles … Er wischte sich unauffällig über die Augen.
„Was meinst du wohl, Loranthus?“, fragte Medan und tastete die Windungen seines langen kupferroten Zopfes ab. „Wie lange hat die Schlacht gedauert?“
„Wie lange?“, krächzte Loranthus und zog verdutzt die Augenbrauen hoch. „Soll ich den Tag davor, den mit den Schaukämpfen, mitrechnen?“
Medan wiegte den Kopf.
„Nein, die Schaukämpfe kannst du weg lassen. Die sind doch nur dazu da, um allen zu beweisen, wie gut man kämpfen kann. In der echten Schlacht hat nämlich keiner mehr die Zeit, vor sämtlichen Augen von Freund und Feind mit seinem Mut zu protzen.“
„Äh … ja, … beweisen … protzen … nun, da magst du recht haben“, bestätigte Loranthus und ergänzte: „Solche Schaukämpfe sollen wohl auch dazu dienen, dem Gegner zu zeigen, wer der Stärkere ist. Es soll ja schon vorgekommen sein, dass eine Partei lieber das Weite gesucht hat, weil sie sämtliche Schaukämpfe verloren hat. Es soll sogar schon mal eine Schlacht gegeben haben, da dauerten die Schaukämpfe mehrere Tage, bis sich die Gegner doch noch zu einer Schlacht aufgerafft haben …“
„Red nicht um den heißen Brei herum!“, forderte Medan und drehte den Finger durch die Luft. „Wie lange?!“
„He? Ach ja, die Schlacht!“
Loranthus schielte zu Viviane hinüber.
Sie betrachtete eine hübsche gelbe Blume am Wegesrand und tat so fasziniert, als wäre diese ein seltenes Heilmittel gegen Gedächtnisschwund. Wahrscheinlich überlegte sie wirklich, ob sie das Pflänzchen gebrauchen konnte. Er persönlich hätte nichts gegen einen schmackhaften Kräutersud gegen Schlafstörungen einzuwenden …
„Also was nun, Loranthus“, drängelte Medan. „Sag schon! Du, als Außenstehender, hast ja wohl die Schlacht am objektivsten betrachtet!“
Loranthus verzog das Gesicht.
„Was, objektiv? Du denkst, ich sein unvoreingenommen? Nun, ja … natürlich, das bin ich … also ich würde mal sagen … die reine Schlacht … vom Aufstellen bis zur Todesgöttin … etwa eine Stunde.“
„Was!“, brüllte Medan und starrte Loranthus so entrüstet an, als hätte der ihn schwer beleidigt. „Ei-ne Stun-de?! Mehr nicht?! Das kann doch nicht wa … chhhhh … lass … chhoo!?“
Zu mehr war Medan nicht mehr fähig, denn Conall stand plötzlich da und hatte ihn mit einer Hand im Genick gepackt. Mit gefletschten Zähnen rüttelte er ihn kräftig durch, während die Leute rundum ihre Hälse reckten, weil sie nur Medans letzte Worte verstanden hatten. Sofort entstand ein Wettstreit, wer seinen Wagen am schnellsten zum Stehen brachte; Fußgänger schlugen natürlich auf der Stelle Wurzeln, wobei manch verkorkste Gestalten entstanden. Einer vergaß sogar seinen Fuß in der Luft, weil er sich so auf Conall konzentrierte, der seinen Mund weit aufriss, um Medan zu verschlingen.
„Du kleiner Wicht! Du wagst es!“, grollte er so laut, dass es jeder im Umkreis von dreißig Schritt verstand. Wer weiter weg war, sorgte schleunigst für einen kürzeren Abstand, um deutlich zu hören: „Eine Stunde Schlachtgetümmel ist dir nicht genug?! Eine Stunde gegenseitiges Abschlachten von Menschen reicht – dir – nicht!?“
„Conall, hör auf!“, bettelte Medan, der wieder ein bisschen Luft zu bekommen schien.
Conall änderte das sogleich und nahm ihn in den Schwitzkasten.
„Was meinst du wohl, du dürres Rippchen …“, knurrte er mit einem diabolischen Grinsen und spannte seinen unversehrten Arm zu einem mächtigen Muskelpaket an. „Wie lange würde es dauern, bis du einen Hieb abbekommst? Egal was für einen! Einen Speerstoß, einen Schwertstreich, einen Axthieb oder von allem etwas?“
Er kickte Medan den freien Ellenbogen in die Rippen, krachte ihm den Schädel gegen seinen und rammte ihm ein Knie gegen die Beine. Medan röchelte nach Luft, zappelte und wand sich, Conall johlte dazu: „Was meinst du wohl, wie die Chancen stehen, bis du an einen Gegner gerätst, der besser ist als du gackerndes Hähnchen? Ein Chatte? Oder zwei? Oder gar drei?! Los! Sag was, du bartloser Ziegenbock!“
„Ichgannnich … mee …“, wimmerte Medan und sein Gesicht war schon ganz rot.
„Aha! Der Herr Kriegsgott aller hirnlosen Meckerziegen kann nicht mehr! Dann sage ich jetzt mal … so über den Daumen gepeilt … du hältst zwei Chatten stand. Das ist viel! Viel mehr als ich glauben möchte, aber nehmen wir mal an, du hast Glück und schaust erst beim dritten Gegner an dir herunter, weil du plötzlich dein Bein nicht mehr spürst … Tja, du hast vergessen, es rechtzeitig weg zu stellen!“
Er schlenkerte Medan ein wenig herum und wuschelte ihm seinen ordentlich geflochtenen Zopf durcheinander, während Medan auf seinen Zehen tänzelte, um nicht zu sehr gewürgt zu werden.
„Das, kleiner Bruder, kann schon mal passieren, wenn man weiter oben beschäftigt ist! Wie durch ein Wunder besiegst du deinen Gegner trotzdem noch schnell, weil du nämlich nur umkippen willst, ohne gleich tot zu sein. Leider denkt dein Gegner das Selbe und du musst dir deinen Sieg redlich verdienen, aber wie schon gesagt, du schaffst es. Nun liegst du also da, nur halb tot, inmitten von abgehackten Fingern, Händen, Armen, Beinen oder herausquellenden Gedärmen, inmitten von Blut, Pisse und Scheiße … Weil es dir da unten nicht gefällt, versuchst du aufzustehen, aber dein Bein macht nicht mit und irgendwie will auch dein einer Arm nicht so recht. Also tastest du nur mit einer Hand um dich herum nach besserem Halt und hast plötzlich ein glitschiges Auge in der Zerre … aber damit nicht genug! Oh, nein! In dem Moment siehst du eine wilde Horde Chatten auf dich zukommen! Sie fuchteln mit riesigen Messern und Schwertern und Äxten und sie sehen aus wie Irre … und diese Wahnsinnigen stürmen dir entgegen, und du liegst da und willst weg … doch du kannst nur noch kriechen, sie sind natürlich viel schneller, und da siehst du dein Weib, wie es schreit in den Wehen, und du siehst dein winziges, blutverschmiertes Töchterchen in deinen Armen, und dein Sohn weint, weil er sich das Knie aufgeschrammt hat, und du willst ihn trösten, doch du kommst nicht hin, weil dein Bein aufgeschlitzt ist … und diese blutbesudelten Chatten jauchzen und hetzen wie eine hechelnde Meute Hunde auf dich zu, die Blut geleckt hat und du weißt: Jetzt ist alles aus, und du pisst dir vor Angst in die Hosen und kneifst die Augen zu und wartest auf den ersten Schlag und bittest Hall, dass sie dich gnädig aufnimmt und dass es schnell vorbei ist …“
Conall atmete schwer. Mit einem Ruck gab er Medan frei, der sich schnell den Hals abtastete und seinen großen Bruder anstarrte, als hätte er einen Geist aus der Anderswelt vor sich.
Conall schüttelte traurig den Kopf und zeigte an sich herunter.
„Und dann“, flüsterte er. „Dann machst du die Augen auf und stellst fest, dass es die Chatten-Horde gar nicht auf dich abgesehen hat. Sie sind zehn Schritte weiter und haben den ältesten Sohn von Eburix samt seiner beiden Flankenreiter von den Pferden gezerrt. Wie animalische Bestien hauen und hacken und stechen sie auf die drei ein, mit gierigem Glitzern in den Augen wollen sie dem Königssohn seinen Schmuck abnehmen. Sie müssen sich natürlich beeilen, weil Ethel oder ihre Töchter sie irgendwann entdecken werden und ihrem Treiben ein Ende machen. Aber bis jetzt ist sie noch nicht zu sehen und die Armreifen und Bartperlen gehen schnell ab, bloß bei den Fingerringen müssen sie die Messer zücken, weil sie nicht lange zerren wollen und der Königssohn brüllt … Sein goldener Torques geht natürlich gar nicht runter, also hebt einer die Axt und der arme Junge … Hall, erbarme dich! Es ist kein Mensch mehr, der da schreit. Doch weil die Monster so in Rage sind und sich gegenseitig in