19. Dezember 1990
Wieder einmal lugt ein Stückchen Wahrheit durch, gleich wieder verdeckt von taktischen Macht- und Meinungsspielen: »Denn so urgewaltig sich die Wende im letzten Herbst auch vollzogen haben mag, ohne die stillschweigende Duldung gerade dieser Kreise der Staatssicherheit wäre sie wohl kaum zu diesem glücklichen Ende gekommen.« (J. M. Möller im Leitartikel der FAZ) Die Rede ist von Leuten wie Markus Wolff. Es ist die Verdichtung von Wut gen gestern und Verzweiflung gen morgen, die sich unseren Herrschaften als Vehikel anbietet, um die DDR-Bevölkerung zu desartikulieren. Bei Möller taucht dieses Potenzial als »tiefer Pessimismus« auf, »der die Menschen in den neuen Bundesländern schon seit längerem erfüllt und der sie mittlerweile fast alles glauben lässt, was ihren düsteren Eindruck bestätigt«. Diese ins Negative sich stürzende Leichtgläubigkeit ist es, woran man das DDR-Volk jetzt vor allem hebelt.
22. Dezember 1990, Los Quemados (La Palma)
Hier wurzelt alle Ökonomie in der Ökonomie des Wassers. An der nötigen Infrastruktur der Bewässerung hat das Gemeinwesen seine Aufgabe. Alte Ordnungen der Verteilung der Ressource. Feudale und dann wieder (oder kombiniert) kapitalistische und Monopolansprüche beschworen Kämpfe auf Leben und Tod herauf. Einer der durch den Staat vermittelten Kompromisse besagt, dass an einer derartigen Anlage dem einzelnen Bauern so viel Wasser zusteht, wie er an einem Tag im Monat mit einem ausgehöhlten Kürbis schöpfen kann. Sie schöpften wie der Teufel, und der Erschöpfung kamen sie durch Nachbarschaftshilfe zuvor. – Koppelungsstelle zwischen Arbeitszeit und Gebrauchswert: ein Tagwerk Wasser.
26. Dezember 1990
Sonderbare Serie von Träumen. Gestern Nacht in einer Kirche, an die Zionskirche erinnernd, eine Podiumsdiskussion, bei der Alexander Dubček auftrat, in vornehm-wehmütiger Haltung von der Empore sprechend. Zwei Nächte träumte mir von Gysi. Es ging um irgendeine Unkorrektheit in seiner Partei, worüber eine Versammlung tagte; ich glaube, jemand hatte einen Handel mit Parteikrempel aus der vorigen Epoche aufgemacht, und Gysi sagte zu mir: »Einer hat halt immer die Hände unter der Decke.« Wieder eine Nacht zuvor HK, die ich aus einer Redaktionssitzung befördern musste, während sie sich, auf Kindsgröße schrumpfend, an mein Bein klammerte, wimmernd und feucht wie ein sexueller Kobold. Heute Nacht hatte man angesichts der Weltwirtschaftskrise den kühnen Entschluss gefasst, das gesamte Gewicht des Staates in die ökonomische Waagschale zu werfen, Krise und Bankrott gleichsam wegzugarantieren. Nachdem die Planwirtschaft zusammengebrochen und vom Privatkapitalismus vereinnahmt worden war, musste sie nun hinterrücks wieder eingeführt werden, als staatliche Trägerschaft der gesamten Wirtschaft, oberflächlich noch die bisherigen Formen weiter- und auslaufen lassend. Es war ein gigantisches und einmaliges Experiment, und ich hatte getan, was ich beim umgekehrten Vorgang bezüglich der DDR versäumt hatte: Beobachter animiert, die von überall her Material sammelten, um das Geschehen aufzuzeichnen.
27. Dezember 1990
Sonst träume ich monatelang nichts (zumindest erinnere ich mich nicht daran), jetzt allnächtlich. Diesmal von einem Kongress in Ost-Berlin, mit ehemaligen SEDlern, die noch benommen von der Katastrophe waren. Die emotionale Qualität ihres Zusammenhangs untereinander und mit der untergegangenen DDR.
Ich habe es noch nicht im Ernst begriffen. Weltgeschichtliche Sackgasse? In den Träumen lernen die Emotionen.
28. Dezember 1990
Schlecht geschlafen und heftige Traumarbeit. Ein Unbewusstes, das zurande zu kommen versucht. Blutige Befreiungskämpfe in der Antike, aber am Schluss, unter den Linden, nach dem gerufen, der »das alles« verantwortet. Ein gründgenscher Conférencier inszenierte dessen Auftritt: Hitler! Aber Hitler war schwarz.
In der zweiten Hälfte der Nacht im Traum mit Volker Braun sisyphusgleich am Staat gearbeitet.
Tagsüber lerne ich Altgriechisch. Großes Bedürfnis danach. Wie ein Tor zu einem nächsten Lebensabschnitt. Es könnte der letzte sein.
Der Urlaub halb vorbei; ich lege den Artikel »Dummheit« zur Seite und wende mich dem Vorwort zur Gramsci-Ausgabe zu.
1991
4. Januar 1991
Auf dem Flughafen von La Palma entdeckte Frigga zwei DDR-Kolleginnen, die in der Argument-Frauen-Redaktion mitgearbeitet hatten. Da sind wir also eine Urlaubsgemeinschaft geworden. Was für ein Wandel seit vor einem Jahr. Große Bedrückung angesichts des Wie. Das Wort der Tage heißt »Abwicklung«. Ich kann mich nicht des Gedankens erwehren, dass es derselben Spracharbeit entspringt wie einst die »Endlösung«.
Aus einer herumliegenden Zeitung vom Rücktritt Schewardnadses im Konflikt mit Gorbatschow erfahren. Er sieht die Gefahr einer neuen Diktatur.
5. Januar 1991
Klaus Bochmann berichtet Bedrückendes über »Abwicklung« und »Evaluierung« aus Leipzig und Halle. Auch in Halle hatten Studenten die Universität besetzt. Hatten anscheinend versucht, mich für irgendeinen Vortrag zu gewinnen. Nur an der Humboldt-Universität hat sich der Rektor auf die Seite der Studenten gestellt.
In den USA steigt die Arbeitslosigkeit. Nach amtlichen Angaben (denen nicht zu trauen ist) waren es im Oktober noch 5,7 Prozent, im Dezember bereits 6,1. Im Arbeitsministerium rechnet man für Juli mit dem Zusammenbruch der Arbeitslosenversicherung in mindestens acht Bundesstaaten.
7. Januar 1991
Wenn Antisozialismus Kristallisationskern eines jeden Faschismus, was wird dann, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten, aus der faschistischen Gefahr? Marginal?
Wird die Kapitalistenklasse wieder problemlos hegemonial, Konsens bündelnd für ein Projekt, das Profitinteressen mit zivilgesellschaftlichem Universalismus artikuliert? Ist der heraufziehende Ölkrieg dafür exemplarisch?
Gramscis Terminologie. »Subalterne« hatte ich als Tarnwort unter Bedingungen der Zensur verstanden. Hat aber Sinn: Kategorie vom Standpunkt der Selbstregierung.
9. Januar 1991
Die von der litauischen Regierung beschlossenen Preiserhöhungen schufen Fronten quer zu den Nationalitäten. Endlich! Nationen gegeneinander – das war unbearbeitbar. Vergebens rief der Parlamentspräsident über den Rundfunk um Hilfe gegen die Demonstranten. Das Parlament wurde aufgebrochen, die Regierung Prunskiene trat zurück, die Preiserhöhungen sind ausgesetzt.
10. Januar 1991
Was Lafontaine von den Kosten der Vereinigung und von der Unmöglichkeit, ohne Steuererhöhungen zurechtzukommen, gesagt hatte, pfeifen jetzt die unzufriedenen Spatzen von den Dächern. Aber der Name L. wird nicht genannt.
Einer Bücherliste in Gramscis 1. Gefängnisheft entnehme ich: Heinrich Manns Untertan heißt in der französischen Ausgabe Le Sujet.
11. Januar 1991
Weltkrieg neuen Typs. – Mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination wartet die bürgerliche Welt auf den Öl-Krieg, denn »Golf« ist doch nur ein geographischer Name für Öl. Ich vermag mich der lüsternen Haltung der Konsumenten von Fernsehbildern vom Krieg nicht gänzlich zu entziehen, obgleich sie mir zuwider ist. Was bevorsteht, ist ein Weltkrieg neuen Typs: scheinbar erklärt die ganze Welt, vertreten durch die Weltorganisation, dem Irak den Krieg. Real und doch auch nur scheinhaft, weil unter der von den USA hegemonisierten Welt eine andere sich rührt. Der Krieg mag sich ausbreiten, soundso viele Völker oder Teile von ihnen werden sich – gegen ihre eignen Regierungen – daran beteiligen.
Mein