Weihnachtswundernacht 2. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Автор
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Жанр произведения: Религиоведение
Год издания: 0
isbn: 9783865069498
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      Er bedankte sich höflich und trat auf den Flur. Er brauchte unbedingt ein Bier.

      * * *

      Er nahm die erste Kneipe mit Stühlen auf der Straße, die er finden konnte. Hier gab es mehr Tauben als Menschen, genau das Richtige. Den Schnaps trank er sofort, mit dem Bier ließ er sich etwas Zeit, es war immerhin erst Mittag. Während er das Pinnchen auf dem Tisch drehte, dachte er bitter an die beiden langweiligsten Geschichten, die er kannte. Beide stehen in der Bibel: die Weihnachtsgeschichte und die Ostergeschichte. Wenn der Engel Maria verkündet, dass »sie vom Heiligen Geist überschattet wird«, weiß jedes Kind, dass Jesus wieder aufersteht. Das Ende ist im Anfang eingeschlossen wie die Fliege im Bernstein. Da gibt es nichts Unvorhergesehenes oder Spannendes.

      »Vielleicht hätten Maria und Josef über ihre Geschichte beten sollen«, dachte er bitter, entschuldigte sich aber in einem frommen Reflex gleich wieder für diesen Gedanken. Offenbar war Gott ein anderer Typ Autor als er selbst. Bei Gott lief immer alles nach Plan auf ein vorgefasstes Ziel hinaus. Das ist schon beeindruckend, immerhin schreibt Gott seine Geschichten nicht mit Tinte. Seine eigenen waren anders. Er wusste nie im Voraus, wie sich ein Buch entwickeln würde. Mit geschlossenen Augen sah er zu, was seine Figuren taten, kritisierte, änderte an manchen Stellen etwas, aber eigentlich war er nur der Chronist, der alles aufschreibt. Die Geschichten entwickelten sich von selbst.

      Je länger er über diesen Unterschied nachdachte, umso weniger war er sicher. Vielleicht wälzte er gerade eine der ältesten Fragen der Menschheit und es ging gar nicht um das Schreiben, sondern um Theologie. Legte Gott alles fest oder ließ er als Autor seinen Geschichten die nötige Luft, sich zu entwickeln? Die Jünger waren Ostern offensichtlich nicht im Bilde, sie waren verzweifelt, hatten das Gefühl, dass Gott die Sache entglitten war. Aber Weihnachten?

      Seine Gedanken glitten immer weiter ab, reisten rückwärts in der Zeit. Die Städte verschwanden, Wälder breiteten sich aus. Nach Osten hin sah er Kreuzritter mit muslimischen Truppen um Jerusalem kämpfen. Rom zerfiel in zwei Reiche, erst fiel Masada, dann Jerusalem. Zuletzt sah er ein Mädchen im Teenageralter, das allein in einer ärmlichen Behausung stand.

      Sie freute sich darauf, bald zu heiraten. Plötzlich strahlte ein überirdisches Licht im Raum auf. Sie presste sich an die Wand, kniff die Augen zu und sah dennoch, wie das Licht sich zu einem Mann zusammenzog. »Maria«, sagte er. »Du hast Gnade gefunden vor Gott.« Maria begann zu weinen. Sie glaubte nicht daran, dass Engel ausgerechnet zu jungen Mädchen aus einfachen Verhältnissen kommen. Schluchzend, um ihren Verstand fürchtend, rannte sie einfach durch die Erscheinung hindurch. Draußen atmete sie ein paar Mal tief durch. Sie schwor sich, nie wieder allein hineinzugehen.

      Er selbst gab seinen Figuren solche Freiheiten, aber hatte auch die echte Maria das Recht, einfach abzulehnen? Nein, vermutlich nicht. Also kommt die schwangere Maria kurz darauf zu ihrem Verlobten.

      »Josef, ich, ich muss dir etwas sagen.«

      »Was ist los, Maria? Warum guckst du so traurig? Du kannst mit mir über alles reden.«

      Maria nickt und packt den Stier bei den Hörnern. »Ich bin schwanger.«

      Es ist, als träfe Josef eine Abrissbirne. (Automatisch strich er das Wort in seinem Kopf durch. Vor zweitausend Jahren gab es keine Abrissbirnen. Noch mal).

      Es ist, als wäre Josef von einer Keule getroffen. Er wendet sich ab, kann erst nach einer Weile wieder sprechen. Dann sagt er, betont langsam, um Fassung ringend: »Von wem?«

      Maria entrüstet sich, was denkt er denn von ihr? Dass sie nebenher einen heimlichen Liebhaber hat? »Von einem Engel. Nein, eigentlich von Gott selbst.« Kaum, dass sie die Worte ausgesprochen hat, merkt Maria, wie dumm sie klingen. Nicht nur sie.

      »Was Besseres fällt dir nicht ein?« Josef stürmt hinaus, er knallt die Tür so stark, dass die Tassen in den Regalen klimpern. Maria will ihm nachrennen, bleibt aber wie angewurzelt stehen. Allein in der Wüste, vielleicht einen Kilometer von Bethlehem entfernt, sitzt Josef allein auf einer Düne. Er spürt nicht, wie ihm die Sonne auf den Kopf brennt. Es wäre ihm auch egal, er will ohnehin lieber sterben als leben, wenn er an die Schande denkt. Die Sache wird ihm immer anhängen. Selbst wenn er Maria verlässt, wird man über ihm tuscheln. Am meisten ärgert ihn die faule Geschichte mit dem Engel. Wenn er Maria nicht verlässt, muss er damit leben, in einem Dorf mit jemandem zu leben, der seine Frau geschwängert hat.

      Josef wird immer bitterer. Da kommt es zu einem merkwürdigen Phänomen. Die gleißende Sonne verdichtet sich zu einem Mann mit Lederschurz. Er trägt ein Schwert an seiner Seite. »Josef«, spricht er ihn an. »Josef, deine Verlobte lügt nicht. Verlass sie nicht.«

      Erst in diesem Moment spürt Josef die Hitze. Er hat einen Sonnenstich, halluziniert bereits. Er muss so schnell wie möglich in den Schatten kommen. Am nächsten Tag löst er die Verlobung.

      Das Pinnchen wird immer noch hin- und hergedreht, obwohl er schon fast zwei Stunden dasitzt. Die Philosophen sprechen von Kontingenz, womit sie etwas Ähnliches meinen wie Zufall. Es gibt viele Möglichkeiten, aber nur eine wird umgesetzt. Das Leben ist nicht vom Schicksal oder einem kosmischen Plan bestimmt. Der ganze Verlauf der biblischen Geschichte könnte auch anders sein. Was wäre, wenn Herodes Jesus als Kind getötet hätte? Könnte Josef seinen Ziehsohn geschlagen, missbraucht, seelisch verbogen haben? Im Nicänischen Glaubensbekenntnis heißt es über Jesus: »… der für uns Menschen und wegen unseres Heils herabgestiegen und Fleisch geworden ist, Mensch geworden ist.«

      Menschsein heißt, der Kontingenz unterworfen zu sein. Ein Leben zu leben, das so oder ganz anders sein könnte.

      »Sie sehen aus, als könnten Sie noch etwas vertragen. Was kann ich Ihnen bringen?«

      Bei den Worten der Kellnerin schreckte er aus seinen Gedanken hoch.

      »Einen Kaffee, bitte.«

      Er klappte seinen Laptop auf und begann zu schreiben. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde die alte Geschichte wieder spannend. Der tiefste Aspekt der Weihnachtsgeschichte ist, dass Gott selbst sich der Kontingenz unterwirft. Bereit, sich auf Unsicherheit einzulassen, die aus Liebe ein Wagnis eingeht, sich der Möglichkeit des Versagens aussetzt.

      Salvatore blieb tot. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, tippte sein Schöpfer einen neuen Titel: »Was wäre wenn?« Die erste Zeile war schnell geschrieben: »Liebe sucht Chancen, keine Sicherheiten.«

      CARSTEN »STORCH« SCHMELZER

      3. Dezember

      Das Geschenk

      Es schellte an der Tür. Missmutig schob ich meinen Schreibtischsessel zurück und schlurfte zur Tür. Mit einem »Ich-mag-es-nicht-wenn-man-mich-stört-Gesicht« öffnete ich die Haustür und blickte in die aufgeweckten Augen eines etwas schäbig gekleideten, älteren Herrn.

      »Keine Angst, ich will Ihnen nichts verkaufen«, begrüßte mich der Alte lächelnd, »mein Name ist Nimmzeit, und ich möchte Ihnen etwas schenken.«

      »Aha«, dachte ich bei mir und stellte mich vorsichtshalber noch etwas breiter in die Tür: »Sie wollen mir etwas schenken, da bin ich aber mal gespannt! Schießen Sie los, worum handelt es sich?«

      Herr Nimmzeit hatte seinen Hut abgenommen und schien nun seltsam in die Ferne zu blicken. Es war, als hätten seine Pupillen durch mich und alle Wände meines Hauses hindurch etwas ganz anderes im Auge.

      »Das, was ich Ihnen schenken möchte, brauchen Sie dringend. Sie haben zwar schon oft versucht, es zu kaufen, aber Sie haben es niemals bekommen. Und heute komme ich zu Ihnen, um Ihnen das, wonach Sie sich so sehr sehnen, zu schenken.«

      Während seine Worte leise verklangen, funkelten mich seine kleinen Augen herausfordernd an,