Richard Rohr ist sich im Klaren darüber, dass dieser Zorn vorzüglich getarnt wird mit Idealismus und Eifer. Der Christ mit Perfektionismus sieht seine Unvollkommenheit und glaubt, dass Gott nur Vollkommene lieben kann. Darum rackert er sich ab. Er lebt so, als müsste er sich das Himmelreich verdienen. Er weiß es mit dem Kopf, aber mit Füßen, Mund und Händen tut er das Gegenteil. Seine Wurzelsünde ist der Zorn. Richard Rohr hat diese Wurzelsünde auch bei sich erkannt.
Perfektionismus und Unzufriedenheit
Der Perfektionist ist in seinem Vollkommenheitsstreben niemals ein zufriedener Mensch. Zufrieden kann er nicht sein, weil alles, was er denkt, fühlt, glaubt oder tut, verbesserungswürdig ist. Der Versuch, perfekt zu sein, beinhaltet eine enorme Anspannung. Der Mensch fühlt sich ausgelaugt und kann sein Resultat nicht genießen. Die Logik des Perfektionisten lautet:
– »Wenn ich es vollkommen schaffe, kann ich mich annehmen.«
– »Wenn ich es perfekt hinkriege, fühle ich mich gut.«
– »Wenn es mir vollkommen gelingt, bekomme ich die notwendige Anerkennung.«
Weil er seine Ziele nicht perfekt erreicht, bleibt er unglücklich und unzufrieden. Glück spiegelt Zufriedenheit wider. Aber glücklich kann er nicht sein, weil ihm das meiste nicht glücklich gelingt.
Zufriedenheit hat mit Frieden zu tun. Der Zufriedene hat Frieden in sich, mit den anderen und mit Gott. Der Unzufriedene liegt im Streit mit sich, mit den anderen und mit Gott. Seine Friedlosigkeit ist sein Markenzeichen. Friede ist ein hebräisch-aramäisches Wort und bedeutet einen Zustand, in dem man unversehrt, unbeschädigt ist, in dem man keinen feindlichen Angriffen von innen und außen ausgesetzt ist. Andererseits hat Friede auch die Bedeutung von »gutem Einvernehmen«, »verbunden sein« und Gemeinschaft mit Freunden, Nachbarn und Familienangehörigen. Noch heute lautet der Gruß im Orient: »Friede sei mit dir.«
Und diesen umfassenden Frieden vermisst der Perfektionist. Er fühlt sich inneren und äußeren Anfeindungen ausgesetzt. Ihm fehlen die innere Ruhe, die Ausgeglichenheit und das »gute Einvernehmen« mit sich, mit den anderen und mit Gott.
Perfektionismus oder die Ich-sollte-Tyrannei
Perfektionisten haben oft ein entsprechendes Vokabular. Es gibt Ausdrücke, die bei ihnen ständig wiederkehren.
– »Ich muss … «
– »Ich müsste eigentlich … «
– »Ich sollte … «
– »Ich darf nicht … «
Perfektionisten laufen absoluten Forderungen hinterher. Ständig machen sie sich Vorhaltungen und nörgeln an sich herum.
– »Ich muss meine Mutter anrufen. Ihr geht es nicht gut.«
– »Ich müsste unbedingt Herrn X einen Brief schreiben. Das bin ich ihm schuldig.«
– »Ich sollte weniger essen. Mein Cholesterinspiegel ist zu hoch.«
Die Ausdrücke verraten, dass ein Zwang im Hintergrund steht. Jemand sitzt diesen Menschen im Nacken und treibt sie an. Wer diese Ausdrücke verwendet, versetzt sich in die Rolle des Opfers. Auf der anderen Seite wird ein großer Widerstand deutlich. Freiwillig tut er es nicht.
Wer sich ernsthaft entschieden hat, dieses zu tun und jenes zu lassen, sagt:
– »Ich werde heute einen Brief schreiben!«
– »Ich will gleich die Arbeit in Angriff nehmen!«
– »Ich habe beschlossen, dieses oder jenes zu tun.«
Seelsorger sollten ernsthaft den Ratsuchenden hinterfragen, wenn er »Muss-Sätze« oder »Sollte-Sätze« formuliert.
– »Sie benutzen den Begriff ›müsste eigentlich‹. Was wollen Sie damit ausdrücken?«
– »Sie formulieren ›Ich sollte‹. Was tun Sie wirklich und wie gehen Sie mit solchen Gewissensansprüchen um?«
In den Sollte-Sätzen und Muss-Sätzen schwingt die Unzufriedenheit mit. Der Perfektionist leidet unter Kompromissen. Er will nicht einigermaßen arbeiten, er will hundertprozentig arbeiten. Er will nicht halbwegs glauben, sondern felsenfest seinen Glauben bekennen.
In den Formulierungen der Perfektionisten schimmern Schuldgefühle durch. Er ist hinter den Maßstäben, die andere ihm gesetzt haben oder die er sich selbst zumutet, zurückgeblieben. Alfred Adler hat den Satz formuliert: »Schuldgefühle sind die guten Absichten, die wir nicht haben.« Muss-Sätze und Sollte-Formulierungen beinhalten Schuldgefühle, die nicht ernst zu nehmen sind. Perfektionisten leiden unter Schuldgefühlen, sie zeigen Reuegefühle, leiden an sich selbst, aber handeln tun sie trotzdem nicht.
Perfektionismus und Selbstzerstörung
Der Psychotherapeut Peter Schellenbaum hat in seinem Buch »Abschied von der Selbstzerstörung« den griechischen Heroen Sisyphos als Bild für die Selbstzerstörung, für die Gewalt des Menschen gegen sich selbst, beschrieben.
Was ist Selbstzerstörung?
▪ Gewalt gegen sich selbst
▪ Selbstausbeutung
▪ Sich mit falschen Maßstäben zugrunde richten
▪ Härte gegen sich selbst
▪ Radikale Kontrolle über sich selbst gewinnen
▪ Sich selbst keinen Fehler verzeihen können
Sisyphos ist ein Beispiel für die Selbstzerstörung. Er muss einen schweren Stein zum Gipfel hinaufstemmen. Mit übermenschlicher Selbstüberwindung stößt er den Stein in die Höhe. Die Kräfte des Heroen lassen nach, ja näher er dem Gipfel kommt. Bevor er den höchsten Punkt erreicht, nimmt das Gewicht des Steines zu. Sisyphos kann den Stein nicht mehr halten. Die schwere Last rollt zurück. Die Arbeit war vergebens. Aber der Held macht sich wieder an die unlösbare Aufgabe. Immer wieder geschieht das Missgeschick. Der Stein ist stärker, die Last drückt den Heroen. Der Held wird immer entmutigter. Er verkrampft sich.
Schellenbaum sieht in Sisyphos Menschen, die idealistisch höchste Ziele anstreben und gleichzeitig resignieren. Sie wollen unbedingt die Kontrolle in ihrem Leben behalten und fallen doch enttäuscht in die Tiefe. Der Kontrollzwang hat den Sinn, dem befürchteten Chaos entgegenzuwirken und fehlerlos Alltag und Sonntag zu bestehen.
Das Entsetzliche ist, dass der Mensch mit Vollkommenheitsvorstellungen wie ein Besessener gegen Fehler und Versagen ankämpft und dann doch enttäuscht zusammenbricht, weil ihm die Fehlerlosigkeit nicht gelingt. Es ergeht ihm wie Sisyphos, den vor dem Gipfel die Kräfte verlassen und der selbstzerstörerisch aufgibt.
Viele Perfektionisten sind Überflieger. Sie wollen höher, weiter und schneller fliegen als andere. Sie geben das Letzte, und wenn sie scheitern, brechen sie völlig zusammen.
Selbstzerstörung beinhaltet,
– wer nur auf die eigene Leistung schaut,
– wer sich und das Leben völlig kontrollieren will,
– wer sich ständig mit andern vergleicht und sich übernimmt,
– wer an Entscheidungen festhält, die er einmal getroffen hat, und sich nicht verändern kann.
Perfektionisten sind fehlerorientiert
Überspitzt formuliert gibt es zwei Sorten von Menschen. Die einen sind erfolgsorientiert. Sie glauben an sich, haben ein gutes Selbstvertrauen, packen Arbeiten ruhig und zuversichtlich an. Ihnen gelingt in der Regel ihre Arbeit. Sie haben Erfolg.
Und dann gibt es Menschen, die sind fehlerorientiert. Ihre Befürchtungen