In der Prawda vom 30. November 1924 folgte Sinowjews Artikel »Bolschewismus oder Trotzkismus«. In der Leningradskaja Prawda schrieb G. I. Safarow über »Trotzkismus und Leninismus«. Alle diese und andere Schriften dieser Art wurden in einem Sammelband mit dem Titel »Sa Leninism« (Für den Leninismus) zusammengefasst, der im Januar 1925 mit einem Vorwort des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare A. J. Rykow erschien. [48]
Auf dem V. Kongress der Kommunistischen Internationale wird die Kampagne gegen Trotzki in die kommunistische Weltbewegung getragen. Otto W. Kuusinen (Finnland) attackierte Trotzki unter der Überschrift »Eine verlogene Darstellung des deutschen Oktober«. Bela Kun (Ungarn) kam wieder auf das Hauptthema: »Der Trotzkismus und der revolutionäre Marxismus«. Auch Brandler und Thalheimer (Deutschland) stimmten in diesen Chor ein. [49]
Und Trotzki? Völlig unerwartet für alle Oppositionellen: Trotzki schwieg! Selbst für Situationen mit relativ günstigen Bedingungen dafür, die Partei gegen Stalins Machtfülle und Machtmissbrauch zu mobilisieren, wie bei der Handhabung von Lenins Testament, stellt P. Broué fest: »Trotzki, für den die Veröffentlichung des Textes ein hervorragender Trumpf hätte sein können, schwieg.« [50]
Als das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission gemeinsam über die »Erklärung der 46« berieten und die Stimmung gegen Bürokratie und Apparateherrschaft im Anschwellen war, arbeitete er gemeinsam mit Stalin und Kamenjew eine Resolution aus mit dem Ziel, die Partei zu beruhigen und ihr mehr Demokratie zu versprechen. Dies gelang und eröffnete den Apparatschiks die Möglichkeit, die in der Resolution genannten Prinzipien zu unterlaufen und ihre Herrschaft wieder zu stabilisieren.
Am 15. September 1924 vollendete Trotzki seine Schrift »Die Lehren des Oktober« für die anschließende Veröffentlichung. [51] Diese Schrift wurde nun zum zentralen Gegenstand des oben angeführten Hauptangriffs. In die Parteigeschichte ging dies alles ein unter dem Begriff der literarischen Debatte. In einem späteren Gespräch mit Sinowjew fragte Trotzki, ob die Debatte gegen den Trotzkismus auch stattgefunden hätte, wenn »Die Lehren des Oktober« nicht erschienen wären, antwortete Sinowjew: »Sicherlich hätte sie stattgefunden, denn der Plan, mit dieser Debatte zu beginnen, war schon vorher angenommen worden, und sie warteten nur noch auf einen Vorwand.« [52]
Auch für diese antitrotzkistische Kampagne gilt die Feststellung von P. Broué: »Tatsächlich hat Trotzki auf diese Flut von Kritiken und Attacken sowie auf die aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate und verleumderischen Interpretationen nicht geantwortet.« [53]
Die einschlägige Literatur ist voller Erklärungsversuche für Trotzkis Verhalten. Sie gehen von der Psychologie über gesundheitliche Aspekte, taktische Überlegungen, politische Fehleinschätzungen bis zu Charakterfragen. Es kann hier nicht Aufgabe sein, diesen Erklärungsversuchen einen weiteren hinzuzufügen. Es soll jedoch auf einen Aspekt hingewiesen werden, den Trotzki selbst formulierte und der in der Literatur kaum Beachtung fand. In einem Memorandum mit dem Titel »Der Gegenstand dieser Erklärung: unsere Divergenzen« vom 30. November 1924, welches sich an Kamenjew richtet, heißt es gleich zu Beginn: »Wenn ich dächte, meine Erklärungen könnten Öl ins Feuer der Diskussion gießen oder wenn die Genossen von denen der Druck dieses Essays abhängt, mir es frank und frei sagen, werde ich ihn nicht veröffentlichen, so belastend es für mich auch ist, der Liquidierung des Leninismus beschuldigt zu sein.« [54] Offensichtlich spielt hier ein Aspekt eine wesentliche Rolle, der von vielen Literaten übersehen wird und den man vielleicht nur voll bewerten kann, wenn man selbst fest in der Partei verwurzelt ist: Parteidisziplin! Dies aber nicht in dem diktatorischen Sinn, in dem dieser Begriff später in den kommunistischen Parteien missbraucht wurde, sondern aus ehrlicher Sorge um die innere Einheit und Stabilität der Partei.
Dieses Verständnis von Parteidisziplin führte dazu, dass Trotzki bis zu seiner Ausweisung 1929 in diesen Machtkämpfen eine ausgeprägt defensive Position bezog. Dies trat besonders deutlich in Erscheinung, als 1925 das Buch von Max Eastman »Since Lenin Died« erschien und darin über das Testament Lenins und über den Umgang damit berichtet wurde. Um den damit ausgelösten Skandal zu unterdrücken, verpflichtete das Politbüro Trotzki als vermutlich glaubwürdigsten Zeugen, die Darstellung Eastmans zurückzuweisen. Dafür wurde ihm folgender Text diktiert: »… Alle Redereien über ein verheimlichtes oder verletztes Testament sind bösartige Erfindungen und sind ganz und gar gegen den faktischen Willen Wladimir Iljitschs sowie gegen die Interessen der von ihm geschaffenen Partei gerichtet.« Und Trotzki unterschrieb wider besseres Wissen! Das war eine eindeutige Kapitulationserklärung.
In der Literatur findet sich mehrfach die Auffassung, Trotzki habe den Kampf um die Macht gegen Stalin verloren. Das ist in sofern eine irreführende Formulierung, als Trotzki diesen Kampf nie ernsthaft geführt hat. Das zeigte sich nicht erst 1925 bei der völlig unverständlichen Erklärung gegen Max Eastman. 1923 wurde vorgeschlagen, dass infolge Abwesenheit Lenins der politische Bericht des ZK auf dem XII. Parteikongress von Trotzki erstattet werden solle, was seine Position in der Gesamtpartei gefestigt hätte. Er lehnte dies ab und schlug selbst Stalin als Berichterstatter vor.
Beim Bekanntwerden von Lenins Testament stimmte Trotzki der Entscheidung zu, diesen Brief Lenins an den Parteitag nicht zu veröffentlichen.
Bei der Erklärung der 46 Oppositionellen, die Trotzki nicht unterschrieben hat, setzte er sich mit Stalin und Kamenjew an einen Tisch und arbeitete eine dagegen gerichtete Resolution aus, anstatt sich an die Spitze der Opposition zu stellen. Auch in der literarischen Debatte hielt er sich zurück – siehe sein Statement an Kamenjew. Diese selbstzerstörerische Haltung behielt Trotzki bis zu seiner Ausweisung bei. [55]
Wenn ein Boxer bei einem angesetzte Fight nicht in den Ring steigt, sondern am Ring steht und das weitere abwartet, gilt der Kampf als für ihn verloren. Und dies nicht, weil er der Schwächere war und gegen den Besseren verlor, sondern weil er dem Kampf ausgewichen ist. Es gilt hierbei wie auch in der großen Politik das bekannte Wort: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren.
Insgesamt kann auch hier mit Pierre Broué festgestellt werden: »Auf diese Weise wurde unter der Bezeichnung ›literarische Debatte‹ der ›Trotzkismus‹ ins Leben gerufen. Eigentlich wurde er für die eigennützigen Zwecke von Kamenjew, Stalin und Sinowjew erfunden, die ihn dem ›Leninismus‹ so gegenüberstellten wie das Böse dem Guten.« [56]
Nachdem diese Konstellation unter der Oberhoheit des Triumvirats Stalin, Kamenjew und Sinowjew etabliert war, begann schon im Folgejahr 1925 ein Entwicklungsprozess, in welchem der Begriff des Trotzkismus eine maßgebliche Rolle spielte. Im Zusammenhang mit Fragen der Wirtschaft und der Innenpolitik gerieten Kamenjew und Sinowjew mit Stalin in Konflikt. Während Bucharin gegenüber dieser »neuen Opposition« auf der Seite Stalins stand, verbündeten sich Kamenjew und Sinowjew mit Trotzki und Radek. Auf welchen Wegen, Irrwegen und Umwegen dies vor sich ging, beschreibt P. Broué ausführlich im 29. Kapitel des ersten Bandes seiner Trotzki-Biographie.
Danach folgt die »Abweichung« der »rechten Kapitulanten« um Bucharin, Rykow und Tomski. Die Auseinandersetzungen Stalins mit diesen wechselnden Gruppierungen erfolgten unter der generellen Überschrift: Kampf gegen den Trotzkismus. Die Macht Stalins war inzwischen weitgehend gefestigt, obwohl er noch Reste von Vorsicht walten lassen musste. So erklärt es sich, dass im Jahre 1927 »nur« der Parteiausschluss von Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Radek und 75 anderen führenden Genossen erfolgte. Im Unterschied zu anderen Oppositionellen war Trotzki aufgrund seiner Rolle in der Oktoberrevolution, seiner Heerführung im Bürger- und Interventionskrieg und seiner Nähe zu Lenin der für Stalin gefährlichste Konkurrent. Durch Lenins zunehmende Differenzen mit Stalin sowie durch die nationale und internationale Reputation Trotzkis wurde dies noch stärker unterstrichen. Daher sah Stalin ihn lieber nicht im Zentrum der Politik und ließ ihn 1928 in die Verbannung nach Alma Ata (Kasachstan) schicken und 1929 des Landes verweisen. Ins Exil ging Trotzki zunächst in die Türkei und später auf Umwegen nach Mexiko, wo er im August 1940 von einem Beauftragten der GPU ermordet wurde, nachdem bereits im Mai durch eine Gruppe Bewaffneter Trotzkis Wohnhaus mit einer wilden Schießerei überfallen wurde, ohne