Dieser intensive Verbrechensroman eröffnet mir ein Stück Indien. Auf seiner alten Royal Enfield Bullet röhre ich mit Inspector Borei Gowda durch Oberschicht-Enklaven, Konsumtempel im Schatten der Hightechwolkenkratzer, durch wimmelnde Großstadtgassen und ländlich-staubige Randbezirke: Bangalore, eine Metropole in stetem Umbruch. Es beginnt als klassische Mordermittlung, geleitet von Gowda, den seine Integrität zum Eigenbrötler und latenten Rebellen macht. Seine sarkastisch gefärbten Innenansichten zeigen die umfassende Korruption in Behörden und Machtzentralen ebenso beiläufig wie die hilflos-selbstgerechte Haltung des privilegierten Mittelstands. Und er ist bestrickend fehlbar, dieser wohlsituierte Kindskopf mit dem manchmal überscharfen Blick.
Kunstvoll verflochten mit der Ermittlergeschichte ziehen weitere Handlungsstränge auf. Anita Nair gelingen feinste Balanceakte zwischen Einfühlung und Nüchternheit, Ranzoomen und Abblenden, Fakten und Gefühlen. Sie erzählt sinnlich und empathisch, doch ohne Pathos und Klischee, sie navigiert fernab jedes Voyeurismus. Die aus der Innensicht gezeigten, krass verschiedenen Lebensrealitäten vermitteln das lebenssprühende, hochkomplexe Bild einer Gesellschaft voller Ethnien- und Kastenvorurteile, mit strikten Hierarchien, ganz eigenen Rassismen, zutiefst patriarchalen Normen und blühendem Raubtierkapitalismus: Indien heute an einem seiner dynamischsten Brennpunkte. Beim Lesen meine ich es vor mir zu sehen, zu riechen und zu schmecken. Ein Fenster zur Welt, eine packende Lektüre-Reise, die keine Abgründe ausspart, sondern sie sichtbar macht, ein Geschenk an uns alle von einer Schriftstellerin, die offenbar fühlt, was sie sieht. Auch das kann Kriminalliteratur auf der Höhe der Zeit. Else Laudan
Anita Nair
Gewaltkette
Deutsch von Karen Witthuhn
Ariadne 1226
Argument Verlag
Das Böse triumphiert allein dadurch,
dass gute Menschen nichts unternehmen.
Edmund Burke
PROLOG
Samstag, 14. März
07:30 Uhr
Eine Wand aus Spiegeln. Darin sah er sich selbst. Ein bulliger Mann in senfgelben Leggings und einem dunkelblauen T-Shirt, das kaum bis zu den Oberschenkeln reichte. Etwas Groteskeres oder Verstörenderes hatte er noch nie gesehen. Er starrte die vielfachen Borei Gowdas an. Musik setzte ein, und der Trainer, ein hochgewachsener schlanker Mann in wie auf den Leib gegossenen Kleidern, dessen Gliedmaßen anscheinend mit Doppelgelenken am Rumpf angebracht waren, wiegte sich im Takt.
»Kommen Sie, Inspector Gowda«, sagte er. »Fangen Sie einfach an, hören Sie auf die Musik, lassen Sie sie durch sich hindurchfließen. Nur so kann man Tango tanzen. Und immer daran denken, links vor, rechts vor, links vor …«
Gowda hörte nicht mehr hin. Was zum Teufel mache ich hier, fragte er sich und die vielen Borei Gowdas im Spiegel.
Das Handy auf dem Nachttisch klingelte beharrlich. Inspector Borei Gowda fuhr hoch und tastete verschlafen nach dem Telefon. Wo war dieser hirnrissige Traum hergekommen?
Er sah auf dem Display die Zeit und riss die Augen auf. Fast acht. Wie hatte er einen Wecker verschlafen können, der zwischen sechs und sieben alle fünfzehn Minuten Krach schlug? Er musste sich gestern Abend richtig die Kante gegeben haben. Ganz entgegen seinen festen Absichten. Er seufzte.
»Hallo«, sagte er ins Handy.
»Sir, ein Anruf aus der Leitstelle. Es geht um jemanden in der Gated Community in der Nähe des Bible College. Ich glaube, Sie sollten hinfahren«, sagte Head Constable Gajendra. Im selben Moment hörte Gowda draußen vor dem Haus schon den kräftigen Motor des Bolero-Jeeps dröhnen.
»Ich bin in fünfzehn Minuten da«, sagte Gowda auf dem Weg ins Badezimmer, wo er sich mit der Zahnbürste im Mund unter die Dusche stellte. Das Trommeln des Wassers beruhigte das Hämmern in seinem Hinterkopf. In seinem müden Schädel spulten sich die Ereignisse des vergangenen Abends in grellen Farben mit Dolby-Surround-Sound ab. Er schloss die Augen. Das musste warten. Jetzt rief die Pflicht.
Head Constable Gajendra wartete bereits am Tor des Shangri La. Das war der auf einer in den Torpfeiler eingebetteten polierten Messingtafel eingravierte Name. Der Head Constable sah mitgenommen aus.
Vor dem Tor hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Gowda grüßte mit einem Nicken und ging auf das Haus zu. Ein kleiner dünner Mann löste sich von der Gruppe und eilte ihm nach. »Hallo, Inspector. Ich bin der Präsident.«
Gowda hielt inne, betrachtete den Mann und überlegte, ob er es mit einem Verrückten zu tun hatte. »Präsident welchen Landes?«
Der Mann wurde rot. »Präsident des Anwohner-Vereins.«
Gowda nickte. »Ah, verstehe. Ich muss Sie bitten, zurückzutreten.«
Beim Weitergehen nahm er noch den enttäuschten Gesichtsausdruck des Mannes wahr.
Zwei Constables hatten die Haustür aufgebrochen. Gowda trat ein und blieb stehen. Die Tür führte in eine Vorhalle, die an einen alten Club erinnerte. Dazu passte ein riesiger Spiegel mit Goldrahmen, unter dem etwas stand, das wie ein in der Mitte durchgesägter Tisch aussah. Bestimmt hatte das einen Namen. Urmila wüsste ihn wahrscheinlich.
Er betrachtete den Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag, und schauderte. Eine Seite des Schädels war zertrümmert. Um den Kopf herum breitete sich ein Heiligenschein aus Blut aus. Daneben lag umgefallen ein steinerner Buddha. Der Marmorfußboden war zersplittert wie die Schädeldecke.
Der Mann trug dunkelblaue Crocs an den Füßen, sein T-Shirt war im Fallen nach oben gerutscht. Unterhalb der linken Rippen sah Gowda eine blau verfärbte Prellung. Durch die kurze Lycrahose war deutlich der Penis zu erkennen. Wer war der Tote? Nachdenklich kniff sich Gowda in den Nasenrücken.
Ein Stück entfernt lag ein Handtuch. Gowda bückte sich und hob es mit Hilfe seines Kugelschreibers auf. Es war feucht und roch nach Chlor. Der Mann ist schwimmen gewesen, dachte Gowda. An der Einfahrt in die Gated Community war ihm linkerhand ein blaues Schimmern aufgefallen.
»Er war gestern Abend um elf zu einer Videokonferenz mit einem Mandanten verabredet. Der Mandant hat anscheinend mehrmals vergeblich angerufen und dann eine Kollegin kontaktiert. Die konnte ihn auch nicht erreichen. Als er auch heute Morgen nicht auf Anrufe und Nachrichten reagierte, hat sie die Zentrale informieren lassen«, sagte Head Constable Gajendra.
»Wohnt er alleine?«, fragte Gowda. Ihm fiel auf, dass der Raum ansonsten unberührt wirkte. Keine umgestoßenen Möbel. Nicht mal eine Glasscherbe oder ein dreckiger Fußabdruck. Hier war niemand eingedrungen. Das Opfer hatte den Täter gekannt. So viel war klar.
»Was ist mit Handy und Laptop?«, fragte Gowda.
»Alles da«, sagte Gajendra. »Ich glaube nicht, dass hier ein Einbruch aus dem Ruder gelaufen ist.«
»Wo ist die Frau, die in der Zentrale angerufen hat?«
»Sie war letzte Nacht in Chennai. Sie hat den ersten Flug genommen und ist auf dem Weg hierher.« Gajendra drehte sich um, draußen hörte man einen Wagen halten.
Ein junger Mann und eine Frau kamen eilig den Gartenweg entlang. Gowda ging ihnen entgegen.
»Dr. Rathore, geht es ihm gut?«, fragte die Frau, während der Mann versuchte, über Gowdas Schulter hinweg einen Blick ins Haus zu erhaschen.
Gowda schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.«
Das Gesicht der Frau verzog sich. »O Gott, o mein Gott«, flüsterte sie, die Hand vor den Mund gepresst.
»Was ist passiert, Inspector?« Die Stimme des Mannes zitterte vor Bestürzung. »Dr. Rathore hat doch immer gut auf sich aufgepasst.«
»Er war Arzt?«, fragte Gowda.
»Nein, nicht so ein Doktor. Doktor der Rechtswissenschaften«, sagte der Mann.