Die Présence Africaine ist der Ort des Verdrängten. Afrika war – weiter als die Erinnerung reicht, durch die Macht der Erfahrung der Sklaverei zum Schweigen verurteilt – tatsächlich in allen Aspekten des täglichen Lebens präsent: im Alltag und in den Bräuchen der Sklavenquartiere, in den unterschiedlichen Sprachen und im Patois der Plantagen, in den oftmals von ihren Taxinomien losgelösten Namen und Begriffen, in den verborgenen syntaktischen Strukturen, in denen andere Sprachen gesprochen wurden, in den Geschichten und Erzählungen für die Kinder, in religiösen Praktiken und Glaubensrichtungen, im spirituellen Leben, in der Kunst, im Handwerk, in der Musik und in den Rhythmen der Sklaven- und postemanzipatorischen Gesellschaft. Das Afrika als Signifikant, das in der Sklaverei nicht mehr direkt repräsentiert werden konnte, blieb und bleibt die ungesprochene und unaussprechbare ›Präsenz‹ in der karibischen Kultur. Sie ›verbirgt‹ sich hinter jeder sprachlichen Flexion, hinter jeder erzählerischen Wendung des karibischen kulturellen Lebens. Sie ist der Geheimcode, mit dem jeder westliche Text ›neu gelesen‹ wurde. Sie ist der basso continuo, auf dem jeder Rhythmus und jede Körperbewegung beruht. Dies war und ist das ›Afrika‹, das noch »in der Diaspora lebendig und wohlauf ist« (Hall 1976c).
Als ich in den vierziger und fünfziger Jahren in Kingston aufwuchs, war ich von den Zeichen, der Musik und den Rhythmen dieses Afrikas der Diaspora – das allein als Ergebnis langer und diskontinuierlicher Transformationsprozesse existierte – ständig umgeben. Obwohl die meisten Menschen um mich herum in den unterschiedlichsten Schattierungen braun oder schwarz (Afrika ›spricht‹!) waren, habe ich kein einziges Mal gehört, dass jemand sich selbst oder die anderen als ›afrikanisch‹ oder als Menschen ›afrikanischer Abstammung‹ bezeichnete. Erst in den siebziger Jahren wurde die afrokaribische Identität für die Mehrheit der jamaikanischen Menschen in ihrer Heimat und im Ausland historisch zugänglich. In diesem historischen Moment, in dem die Jamaikaner/innen ihr ›Schwarzsein‹ entdeckten, erkannten sie sich selbst als Söhne und Töchter der ›Sklaverei‹.
Diese tiefgreifende kulturelle Entdeckung konnte jedoch nicht direkt und ohne ›Vermittlung‹ stattfinden. Sie wurde erst durch die Einflüsse der postkolonialen Revolution auf das Alltagsleben, durch die Bürgerrechtskämpfe, die Rastafari-Kultur und die Reggae-Musik – Metaphern, Erscheinungen oder Signifikanten einer neuen Konstruktion des ›Jamaikanischseins‹ – erfahrbar. Diese bezeichneten das ›neue‹ Afrika der Neuen Welt, das in dem ›alten‹ Afrika verwurzelt ist. Es war eine spirituelle Entdeckungsreise, die in der Karibik zu einer autochthonen kulturellen Revolution führte. Dies ist, so ließe sich behaupten, ein notwendigerweise ›aufgeschobenes‹ Afrika, ein Afrika als spirituelle, kulturelle und politische Metapher.
Es ist die Präsenz/Abwesenheit Afrikas in dieser Form, die ›Afrika‹ zu einem bevorzugten Signifikanten für die neuen Konzeptionen karibischer Identität werden ließ. Alle Menschen in der Karibik, unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund, müssen sich früher oder später mit dieser afrikanischen Präsenz auseinandersetzen. Schwarze, Braune, Farbige oder Weiße – alle müssen der Présence Africaine ins Gesicht blicken und ihren Namen nennen. Ob es sich dabei jedoch um den eigentlichen Ursprung unserer Identitäten handelt, um eine über vierhundert Jahre der Vertreibung, Zersplitterung und Deportation hinweg unveränderte Identität, zu der wir letztendlich und im wörtlichen Sinne zurückkehren können, daran darf zu Recht gezweifelt werden. Das ›ursprüngliche‹ Afrika existiert nicht mehr, auch Afrika unterlag Wandlungsprozessen. In diesem Sinne lässt sich Geschichte nicht rückgängig machen. Wir dürfen nicht den Fehler des Westens wiederholen, der Afrika genau dadurch normalisiert und sich angeeignet hat, indem er es in einer zeitlosen Zone der ursprünglichen und unveränderlichen Vergangenheit einfror. Zwar müssen nun auch die karibischen Menschen endlich mit Afrika rechnen, aber es kann nicht irgendwie wiederentdeckt werden.
Wir dürfen das unwiderruflich unser Eigen nennen, was Edward Said einmal als »imaginative Geografie und Geschichte« bezeichnet hat, die
»dem Geist hilft, das Bewusstsein seiner selbst dadurch zu intensivieren, dass sie die Distanz und Differenz zwischen dem, was ihm nah, und dem, was weit von ihm entfernt ist, dramatisiert« (Said 1985, 55; eig. Übers.)
Diese Geografie und Geschichte »[besitzt] einen imaginativen oder figurativen Wert, den wir benennen und fühlen können« (ebd.). Unsere Zugehörigkeit zu ihr begründet das, was Benedict Anderson mit dem Begriff der ›imaginären Gemeinschaft‹ umschrieben hat (Anderson 1988). Zu diesem ›Afrika‹, das unausweichlich Teil der karibischen Vorstellungswelt ist, können wir im wörtlichen Sinne nicht einfach heimkehren.
Der Charakter dieser aufgeschobenen ›Heimreise‹, ihre Dauer und Komplexität sind in zahlreichen Texten anschaulich behandelt worden. Die dokumentarischen Archiv-Fotografien von Tony Sewell – Garveys Kinder: Das Erbe des Marcus Garvey3 – erzählen die Geschichte einer ›Heimkehr‹ zu einer afrikanischen Identität, die notwendigerweise über den Umweg London-Vereinigte Staaten führte. Sie ›endet‹ nicht in Äthiopien, sondern bei Garveys Statue vor der St.-Ann-Gemeinde-Bibliothek auf Jamaika, sie ›endet‹ auch nicht mit einem traditionellen Stammeslied, sondern mit der Musik von Burning Spear und dem Redemption Song von Bob Marley. Hier finden wir unsere ›lange Reise zurück in die Heimat‹. Der couragiert geschriebene Bildkommentar von Derek Bishton, Black Heart Man – die Reise-Geschichte eines weißen Fotografen ›auf den Spuren des gelobten Landes‹ –, hat seinen Anfangspunkt in England und führt weiter über Shashemene, den Ort in Äthiopien, den viele Jamaikaner/innen auf der Suche nach dem gelobten Land durchstreifen, direkt in die Sklaverei. Die Reise endet jedoch in Pinnacle, Jamaika, wo sich die ersten Niederlassungen der Rastafarians entwickelt haben, und sie endet ›jenseits‹ davon – zwischen den Armen und Enteigneten im Kingston des zwanzigsten Jahrhunderts und in den Straßen von Handsworth, England, wo Bishtons Entdeckungsreise begonnen hatte. Diese symbolischen Reisen sind notwendig für uns alle, und sie sind notwendigerweise zirkulär. Hier finden wir das Afrika, in das wir – ›über einen Umweg‹ – zurückkehren müssen: das Afrika, das ein Teil der Neuen Welt geworden ist, das Afrika‹, das wir selbst geschaffen haben, das ›Afrika‹, wie wir es in unserer Politik, unserer Erinnerung und in unseren Wünschen und Sehnsüchten wiedererzählen.
Was hat es mit dem zweiten, beunruhigenden Term in unserer Identitäts-Gleichung, der europäischen Präsenz auf sich? Für viele von uns besteht hier das Problem nicht in einem Zuwenig, sondern in einem Zuviel. Während Afrika ein Fall des Ungesagten war, leiden wir im Falle Europas darunter, dass es ununterbrochen spricht und uns spricht. Die europäische Präsenz unterbricht die Unschuld des ganzen Diskurses über ›Differenz‹ in der Karibik, indem sie die Frage der Macht einführt. ›Europa‹ ist unwiderruflich mit dem ›Spiel‹ der Macht, mit den Linien von Gewalt und Zustimmung und mit der Rolle des Herrschenden in der karibischen Kultur verknüpft. Es ist die europäische Präsenz in Form von Kolonialismus, Unterentwicklung, Armut und Rassismus gegen Farbige, die innerhalb ihrer dominanten Repräsentationsregimes das schwarze Subjekt positioniert hat: im kolonialen Diskurs, dem der Abenteuer- und Entdeckungsliteratur, dem über die Romantik des Exotischen, im Auge des Ethnografen und Reisenden, in den Topoi des Tropischen im Tourismus, den Reiseführern und in Hollywood und in den gewalttätigen und pornografischen Sprachen des Ganja und der städtischen Gewalt.
Da es bei der Présence Européenne um Ausgrenzung, Zwang und Enteignung geht, erliegen wir oftmals der Versuchung, diese Macht als vollkommen außerhalb von uns zu sehen, als eine äußerliche Kraft, deren Einfluss wir – ähnlich wie die Schlange ihre Haut – einfach abstreifen könnten. Woran uns Frantz Fanon in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken erinnert, ist die Tatsache, dass und wie diese Macht zu einem konstitutiven Element unserer eigenen Identitäten geworden ist.
»… und der Andere fixiert mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. Ich wurde zornig, verlangte eine Erklärung. Nichts half. Ich explodierte. Hier die Bruchstücke, die von einem anderen Ich wieder zusammengesetzt wurden.«