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      Die eigentliche Schwierigkeit entsteht dadurch, dass die beiden Verbrecher ihr Verhalten nicht abstimmen können. So empfiehlt sich jedem, zu gestehen, weil man nur so unabhängig vom Verhalten des anderen die Höchststrafe vermeidet. Gesteht der andere ebenfalls, hat man die 4 Jahre abzusitzen, schweigt der andere, sogar nur ein Jahr. Da sich für beide die Situation gleich darstellt, sollten sie auch beide diese Option wählen und defektieren. Man spricht von einem (starken) Nash-Gleichgewicht: in diesem Zustand kann sich jeder der Spieler durch einseitige Strategieänderungen nur verschlechtern.42 Freilich gelangen die Spieler mit dieser rationalen Strategie zu einem pareto-inferioren Resultat, denn im Falle der Kooperation hätten sie beide besser dagestanden! Dies ist der Kern des Dilemmas: die aus je individueller Perspektive rationale Strategie führt zu einem für alle dürftigen Ergebnis. Hier trifft man auf ein ernsthaftes Problem individualistischer Rationalität.

      Entwickelt wurde die Spieltheorie übrigens als Analyseinstrument im Kalten Krieg. Erst vor diesem Hintergrund erhellt die Bedeutung der absoluten Nichtkommunikation zwischen den Gefangenen, die für die nuklearen Großmächte stehen. Das Nash-Gleichgewicht ist insbesondere also die theoretische Grundlage für das »Gleichgewicht des Schreckens«. Es ist interessant zu notieren, dass Nash in seiner Arbeit die Modellannahmen noch einmal gegenüber dem Ansatz von Neumanns und Morgensterns verschärfte. Während diese sich auch intensiv mit der Rolle von Koalitionsbildungen in Spielen mit mehr als zwei Spielern auseinandersetzen, schloss Nash diese ausdrücklich aus. Seine Spieler agieren vollkommen unabhängig, sie kennen weder Kommunikation noch Koalition. Dieses düstere Bild wurde tatsächlich erst in einem zweiten Schritt auf die Analyse der Wirtschafts- und schließlich auch anderer sozialer Prozesse übertragen, die mithin als eine Art verallgemeinerter Kalter Krieg verstanden wurden.

      Vor diesem Hintergrund ist es besonders bemerkenswert, wie sich das Bild ändert, wenn das Spiel des Gefangenendilemmas über mehrere Runden gespielt wird, so dass die Spieler die Möglichkeit erhalten, auf das Verhalten des Mitspielers in der Vorrunde zu reagieren. Die optimale Strategie besteht darin, im ersten Zug Kooperationsbereitschaft zu signalisieren und sodann immer den Zug des anderen nachzuahmen, so dass seine Kooperation mit selbiger belohnt, die Defektion aber mit selbiger bestraft wird. Diese Strategie wird als TIT FOR TAT bezeichnet (etwa: »wie du mir, so ich dir«). Treffen zwei TIT FOR TAT Spieler aufeinander, erreichen sie tatsächlich das Paretooptimum. Aber selbst wenn der Mitspieler einer anderen Strategie folgt, bleibt der TIT FOR TAT Spieler nahe am optimalen Ergebnis. Er ist kein ›naiver‹ Kooperationspartner, dessen Strategie sich ausnutzen ließe.43 Es lässt sich zeigen, dass diese Strategie es zumindest im Ansatz erlaubt, die Entstehung kooperativen Verhaltens in einer rein egoistischen Umwelt zu verstehen. Dringt nur ein kleiner cluster von TIT FOR TAT Strategen in einer Population konsequenter Defektierer ein, kann er sich dort halten und entwickeln.44 Die Frage nach der evolutionären Entstehung von Kooperation und Institutionen ist heute ein zentrales Problem alternativer Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften. Wir werden darauf zurückkommen.

      Wir haben nun die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften in ihren elementarsten Zügen kennengelernt. Es sticht in die Augen, dass sie das Marktgeschehen nach dem Vorbild eines physikalischen Geschehens konzeptualisieren. Diese Analogie wurde auch nicht erst im Rückblick von den Historikern der Ökonomie entdeckt. Vielmehr beriefen sich die Autoren der Grenznutzenschule in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausdrücklich auf die Physik ihrer Zeit, welche mit dem Energiebegriff gerade einen ihrer ergiebigsten Begriffe aus der Taufe gehoben hatte. Aus dieser Physik konnte sie insbesondere das Extremalprinzip übernehmen, wie es dem Pareto-Prinzip zugrundeliegt: sich selbst überlassene Systeme tendieren dazu, einen Zustand einzunehmen, in welchem eine charakteristische Größe einen Extremwert annimmt. Das Marginalprinzip schlägt die Brücke zur Mathematik, da es die Anwendung analytischer Methoden erlaubt. Damit können wir das Programm der Neoklassik endlich vollständig durch folgende drei Elemente beschreiben:

      1 Methodologischer Individualismus;

      2 Utilitarismus;

      3 Paradigma der energetischen, mathematischen Physik.

      Aus diesen drei Säulen ergeben sich auch die Züge, die die moderne Volkswirtschaftslehre charakterisieren und zunehmend infrage gestellt werden: mathematischer Formalismus, der Anspruch der Wissenschaftlichkeit gegen alle alternativen Ansätze, der zentrale Begriff des Nutzens, das Programm der Mikrofundierung, die Annahme exogener Variablen, insbesondere exogener Präferenzordnungen.45

      Wichtiger für unsere Fragestellung ist aber, welche Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands, des Wirtschaftsprozesses, durch dieses Programm vorgegeben waren. Was nämlich durchaus erst im Rückblick sichtbar wurde, waren die Schranken, die dem Programm, welches anfangs allein als Verheißung und Erfolgsgarantie erscheinen konnte, sehr wohl eingeschrieben waren. Der ›mechanistisch‹ aufgefasste Wirtschaftsprozess, wie ihn die Neoklassik vorstellt, ist gekennzeichnet durch folgende drei Eigenschaften:

      1 Autonomie: keine Abhängigkeiten;

      2 Reversibilität: keine Geschichte;

      3 Unendlichkeit: keine Grenzen.

      Mit diesen Schlagworten ist genauer folgendes gemeint:

      2.3.1 Autonomie

      Unter Autonomie sind zwei Besonderheiten zu verstehen. Erstens ist der Wirtschaftsprozess ein autonomer Subprozess des gesellschaftlichen Gesamtgeschehens, d. h. er kann allein durch das ökonomische Eigenschaftsspektrum des homo œconomicus erklärt werden und es gibt keine Abhängigkeiten zu anderen sozialen Teilprozessen wie Kultur, Religion, Politik. Zweitens kann und wird es in der wirklichen Welt zwar zahlreiche Interferenzen mit anderen gesellschaftlichen Subprozessen geben, aber diese sind Störungen in dem anspruchsvollen Sinne, dass sie die Markteffizienz verringern, also zu einem Zustand führen, der nicht Pareto-optimal ist. Diese Autonomie des wirtschaftlichen Prozesses ist insbesondere auch bestimmend für das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaften im Verhältnis zu den anderen Sozialwissenschaften. Wir können sagen, dass sie eine Sozialwissenschaft wider Willen sind.

      2.3.2 Reversibilität

      Diese Eigenschaft ist aus der Mechanik bekannt: mechanische Systeme verhalten sich – abstrakt ausgedrückt – symmetrisch unter Zeitumkehr. Konkret gesprochen heißt dies, dass der zeitlich umgekehrte Ablauf eines gegebenen rein-mechanischen Vorgangs den Gesetzen der Mechanik ebenfalls entspricht. Lässt man die Filmaufzeichnung eines Stoßes zweier Billiardkugeln oder eines schwingenden Pendels rückwärts ablaufen, so zeigt sie ein nach den Gesetzen der Mechanik zulässiges Geschehen. (Man beachte, dass Reibungsverluste, die die Zeitsymmetrie in der Tat verletzen, indem z. B. die Pendelschwingung allmählich zum Erliegen kommt, keine rein-mechanischen Vorgänge sind, da dabei mechanische Energie in Wärme umgesetzt wird.) Und Gleiches gilt in der Tat auch für den Wirtschaftsprozess, wie ihn die Mikroökonomie auffasst. Jeder Tausch beispielsweise ist auch in umgekehrter Richtung denkbar. (Dass dies den Präferenzen der Akteure zuwiderläuft ist kein Einwand, da die Präferenzen ja allein aus dem ökonomischen Verhalten bekannt sind, sprich aufgrund des rückwärts laufenden Films würde man auf andere Präferenzen schließen.)

      Diese Eigenschaft ist, was wir noch eingehender zu diskutieren haben werden, mit der grundsätzlichen Erfahrung der Gerichtetheit der Zeit unverträglich. Aber auch grundlegende ökonomische Phänomene wie der Zusammenhang von Verschuldung und Profit sind mit der Zeitsymmetrie nicht vereinbar. Schulden werden mit Blick auf zukünftige Gewinne gewährt sowohl als auch aufgenommen.46 Für den Augenblick behalten wir vor allem die methodologische Konsequenz der Reversibilität zurück, dass alle Geschichte aus dem rein-ökonomischen Prozess ausgeschlossen und somit auch jeder historische Ansatz in der Wirtschaftswissenschaft disqualifiziert ist. Die Welt des Gleichgewichts kennt keine Geschichte, da jede Störung des Gleichgewichts Kräfte mobilisiert, die das System wieder ins Gleichgewicht rücken, so wie eine angestoßene Kugel immer wieder zum tiefsten Punkt einer Schale zurückfinden wird. Eine relevante Geschichte – um dieses