Klaras Hände krallten sich nervös in ihren Rock, während sie weiter den Worten Peters lauschte.
»Sie haben Vater Liborius zu sich kommen lassen. Er ist noch immer bei den Dominikanern.«
»Was wollen sie von ihm?«
»Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich suchen sie jemanden, der ihnen den Namen eines Ketzers verrät.«
»Das kann nicht sein«, fuhr Klara auf. »Vater Liborius ist ein freundlicher, ehrlicher Mann. Er würde niemals einen von uns verraten, selbst wenn er sich der Ketzerei schuldig gemacht hätte.«
»Wach auf, Klara«, sagte Peter und winkte mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Die Inquisition ist im Dorf. Die Dominikaner sind nicht ohne Grund hier. Einer von uns ist ein Verräter.«
»Das glaube ich nicht.«
Peter richtete seine Augen gen Himmel.
»Deine Unschuld in allen Ehren, Klara, aber du bist einfältig.«
Klara wollte eben eine bissige Bemerkung machen, als sich Stimmen in der Menschenmenge vor dem Wirtshaus erhoben. Sie stand auf. Peter kletterte auf einen Heuwagen und zog Klara mit sich. Von dort konnten sie über die Köpfe der Leute hinwegsehen.
Die Tür des Wirtshauses hatte sich geöffnet. Von einem Soldaten begleitet, trat Vater Liborius hinaus. Sein Kopf war nach unten gebeugt, als schämte er sich, den Bürgern von Reheim in die Augen zu blicken.
»Was wollen die Inquisitoren von uns?«, rief ein Mann aus der Menge.
»Sag uns, was passiert ist«, verlangte eine ältere Frau.
»Warum warst du so lange bei ihnen?«
»Was habt ihr besprochen?«
Vater Liborius wich vor den Fragen zurück. Er wollte schon wieder in das Wirtshaus hineingehen, als Thomas aus dem Haus trat. Er hob seine Hände, und die Menge wurde ruhig.
»Wir werden alle eure Fragen beantworten. Morgen, bei der Versammlung.«
»Was für eine Versammlung?«, rief der ältere Mann dazwischen.
»Morgen, zur Nona, gebieten wir, dass sich alle Bürger von Reheim im Festsaal zu versammeln haben. Ein Fernbleiben müssen wir als Missachtung der Kirche ansehen und somit als Ungehorsam gegenüber Gott.«
Für einen Moment hatten seine Augen einen harten Ausdruck angenommen. Dann sprach er mit ruhiger Stimme weiter: »Geht nach Hause. Morgen werdet ihr alles erfahren. Wir wünschen keine weiteren Störungen.«
Dann drehte sich Thomas um und ging in das Wirtshaus zurück.
Vater Liborius blieb allein vor dem Haus zurück. Als er die Blicke der Bürger auf sich spürte, lief er zu seiner Kirche am Dorfrand zurück.
Viele Bürger blickten ihrem geistlichen Beistand überrascht oder erschreckt nach, doch dann zerstreuten sich die Menschen auf dem Marktplatz langsam und gingen nach Hause. Klara blieb bis zuletzt auf dem Wagen stehen. Dann nahm sie Peters Hand und drückte sie fest, als suchte sie Halt, bevor sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren vom Wagen hinunterkletterte und nach Hause ging.
Peter sah ihr noch lange nach. Als er sie nicht mehr ausmachen konnte, verbarg er sein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er echte Angst. Nicht die Furcht vor dem prügelnden Vater, dessen Tochter er verführt hatte. Diese Angst ging tiefer. Es war die Furcht vor Folter, vor Demütigung und dem qualvollen Tod auf dem Scheiterhaufen. Peter war nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen, doch in dieser Nacht würde er zu Gott beten und seine Gnade erflehen.
Die Dunkelheit hatte die letzten Strahlen der Sonne vertrieben. Wolken bedeckten den Himmel und ließen kaum das Licht des Mondes hindurch. Pater Thomas zog den Saum seiner Kutte über seinen Kopf und trat vor das Wirtshaus. Er nickte einer Wache zu, ihm zu folgen, und lief über den Marktplatz. Sein Weg führte ihn durch die Gassen des Dorfes, vorbei an stinkenden Hühnerställen, dampfenden Misthaufen und heruntergekommenen Fuhrwerken. Die Straßen waren eng, die Häuser schief, und der Dreck an seinen Stiefeln ließ ihn würgen.
Thomas versuchte, die trüben Pfützen zu meiden, bis er an einem kleinen Haus angekommen war. Er gab dem Soldaten ein Zeichen, der daraufhin nach vorne trat und zweimal fest an die Tür klopfte. Einen Augenblick später waren aufgeregte Schritte zu vernehmen. Ein wenig Licht drang durch den Türschlitz, als sich jemand dem Eingang näherte. Ein Riegel wurde hochgeschoben, und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
Thomas erblickte eine alte, ergraute Frau, deren Haare ihr in einem wilden Durcheinander über den Rücken fielen. Sie trug ein zerschlissenes Nachtgewand, das an vielen Stellen geflickt war. Der Geruch von Knoblauch, Dung und Exkrementen drang durch die Tür. Thomas musste sich beherrschen, um nicht den Kopf vor Ekel abzuwenden.
»Maria Höfner?«, fragte Thomas.
»Jawohl«, antwortete die Frau leise und zog sich ängstlich einen Schritt zurück.
»Prior Baselius vom heiligen Orden der Dominikaner möchte mit Euch reden. Kleidet Euch an und kommt mit uns.«
»Was möchte der Prior denn von mir?«, fragte Maria mit leiser Stimme.
»Das wird er Euch selbst sagen«, antwortete Thomas und rang sich ein Lächeln ab.
Die Frau nickte kurz und lief dann, so schnell es ihre alten Beine erlaubten, in das Haus hinein. Thomas musste nicht lange warten. Als sie zurückkam, hatte sie ein langes, ergrautes Kleid an, das ein wenig nach Kamille duftete. Ihre Haare fielen noch immer strähnig über ihre Schultern, doch während sie zurück zum Wirtshaus liefen, schaffte sie es, sie zu bändigen und zu einem Knoten auf dem Kopf zusammenzustecken.
Thomas wunderte sich über die schweigsame Frau. Meist schworen die Leute schon bei seinem Anblick, dass sie sich keiner Ketzerei schuldig gemacht hatten. Sie erklärten, dass alle Vorwürfe gegen sie falsch waren, noch bevor er ein Wort der Anklage geäußert hatte. Maria schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. Schweigsam gingen sie zum Wirtshaus. Thomas lief voraus. Maria folgte mit dem Soldaten einen Schritt dahinter.
Am Wirtshaus angekommen, führte Thomas die alte Frau ohne ein weiteres Wort nach oben. Er klopfte an die Tür von Pater Baselius und öffnete diese nach einem Augenblick. Dann winkte er Maria hinein. Die Frau lächelte den jungen Inquisitor freundlich an. Thomas blickte ihr verwundert nach. Anscheinend wusste sie wirklich nicht, was hier passieren würde.
Vater Liborius nahm eine Lampe zur Hand und schlich aus der Kirche. Das letzte Licht versank hinter dem Horizont, aber die Ankunft der Inquisitoren ließ ihn nicht schlafen. Seine Kirche war ihm noch nie so beengt vorgekommen. Er musste mit jemandem reden, denn selbst die Einkehr im Gebet hatte ihm nicht den Frieden gebracht, den er sonst aus der Anrufung Gottes erhielt.
Liborius ließ die Lampe noch verdeckt, bis er die Häuser Reheims hinter sich gelassen und den Wald betreten hatte. Er war den Weg noch nie in der Nacht gelaufen, aber er kannte sich gut genug aus, dass er sein Ziel auch im Dunkeln erreichen würde.
Der alte Mann war das Laufen nicht mehr gewohnt. Er war noch nicht lange unterwegs, als sein Knie zu schmerzen begann. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, und er atmete keuchend. Trotzdem weigerte sich Liborius, auf seinen Körper zu hören und stehen zu bleiben. Die Lampe vor sich, hielt er den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Sehen konnte er nur noch ein kleines Stück Weg. Beinahe hatte er das Gefühl, seine Welt ende hinter dem Ausschnitt, den er überblicken konnte. Aber er marschierte Schritt um Schritt voran. Seine Kutte war schweißdurchnässt, als er auf einer kleinen Erhebung anhielt und den Kopf hob. Er drehte sich in alle Richtungen und hielt die Lampe hoch über seinen Kopf. Die Bäume verschluckten das wenige Licht des Mondes. Unsicher ging er umher, bis er einer alten Eiche gewahr wurde, deren knorrigen Äste wie Krallen in den Himmel strebten. Der Baum hatte schon alle Blätter verloren,