»Ich glaube nicht, dass die Versammlung ein gutes Ende nimmt.« Sie sah ihm in die Augen. »Du kennst die Inquisition doch. Gibt es nichts, was wir für Agnes tun können?«
Markus stand auf und drehte sich zum Fenster. Dort hinter dem kleinen Hügel, ein Stück durch den Wald, war Reheim. Klara hatte das Gefühl, er suchte die richtigen Worte.
»Für eine junge Frau wie dich ist es schwierig, das alles zu verstehen. Ich werde mir aber Mühe geben, es zu erklären.« Markus ging zum Tisch zurück und setzte sich. Er faltete die Hände und mied ihren Blick. »Die Inquisition fühlt sich von Gott berufen, ihre Arbeit zu vollziehen. Aus diesem Grund können sich Inquisitoren also nicht irren. Ihrer Meinung nach wenigstens. Wohin sie auch immer kommen, sie werden eine arme Seele finden, der sie Ketzerei vorwerfen können, auch wenn sie unschuldig ist. Hierbei geht es nicht allein um Glauben und Unglauben, es ist eine Frage der Macht.
Menschen lieben es, Macht auszuüben. Es verleiht ihnen ein Gefühl der Stärke und der Bedeutung. Und was könnte größer sein als die Macht über das Leben? Jeder Mensch, der einmal von diesem Trank gekostet hat, wird ihn nie wieder hergeben. Keine Frau kann dir mehr Wonne bereiten, und kein Bier wird dich je in einen größeren Rausch fallen lassen.«
Markus seufzte. »Als die Inquisitoren nach Reheim kamen, war das Urteil über Agnes im Grunde schon gesprochen. Eine allein lebende Frau wie sie, erfahren mit dem Behandeln von Krankheiten und dem Lindern von Schmerzen, ist das perfekte Opfer für die Inquisitoren. Wenn es nicht Agnes gewesen wäre, so hätten sie sich jemanden anderen aus dem Dorf genommen. Sie wären niemals weitergezogen, ohne einen von uns der Ketzerei zu überführen.
Agnes fühlte genauso. Sie ist alt, hat ihr Leben gelebt und muss keine Kinder versorgen. Auch sie ist nicht unsterblich, und so findet sie Trost in dem Gedanken, dass nicht du oder ein anderer Mensch, der ihr am Herzen liegt, sterben muss.«
Markus blickte auf und sah in das tränenüberströmte Gesicht von Klara. »Sie opfert sich für uns, Klara, und das Einzige, was sie in diesen dunklen Stunden mit Zufriedenheit erfüllt, ist das Wissen, dass sie dich und andere vor den Schrecken der Inquisition bewahrt hat.«
Klara stand auf. Plötzlich verstand sie. Sie wusste, was Agnes und ihr Onkel in stiller Eintracht vereinbart haben mussten. Sie konnte die Worte fast hören. Jetzt begriff sie auch Vater Liborius’ Verzweiflung und warum er Agnes der Hexerei bezichtigt hatte.
Hastig rannte sie hinaus. Ihr Onkel schien ihr noch etwas nachzurufen, doch sie hörte seine Worte nicht. Sie lief in den Wald und betrat den Weg nach Reheim. Es schien ihr wie eine Ewigkeit vorzukommen, bis sie das erste Haus des Dorfes erreicht hatte.
Als sie den Rauch roch, wollte die Verzweiflung sie überwältigen. Sie bog um eine letzte Ecke und erreichte den Marktplatz. Die Bürger standen dicht gedrängt um ein großes Feuer. Die Flammen stiegen meterhoch in den Himmel. In der Mitte, noch immer an einen Pfahl gebunden, hing ein verkohlter Leichnam. Der Mund war wie von stummem Schreien verzerrt gen Himmel gerichtet.
Klara sank auf die Knie. Sie barg ihr Gesicht in den Händen und krümmte sich wie unter Schmerzen auf dem Boden. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. Es war zu spät.
Baselius stand am Rand des Marktplatzes und hatte seine blinden Augen geschlossen. Er spürte den heißen Schein des Feuers und genoss die Wärme. Sie beruhigte ihn. Er hatte seine Arbeit getan und wieder eine Sünderin dem Herrn zugeführt. Das reinigende Feuer hatte alles Verderbte aus dem Körper herausgewaschen, sodass die Seele in das Himmelsreich aufsteigen konnte.
Der Prior war müde. Die Befragung der Hexe war mühsam gewesen und hatte ihm nur wenig Schlaf beschert. In Momenten wie diesen wünschte er sich in die Ruhe seines Klosters zurück, einzig mit der Anbetung Gottes beschäftigt, umgeben von seinen Brüdern. Doch er wusste um die immer größer werdende Gefahr der Ketzerei, des Unglaubens und der Hexenkunde. Die Sünden der Menschen hatten zugenommen. In seinen ersten Tagen als Inquisitor hatte er es mit einer kleinen Menge an Fanatikern zu tun gehabt, die offen die Kirche verachteten und Gott verspotteten. Doch Jahr für Jahr wurden die Häresien mehr und die Tarnungen der Ketzer raffinierter. Waren es anfänglich noch Bettler, Diebe und Halsabschneider gewesen, die sich Gottes Wort widersetzt hatten, so überführten sie nun immer mehr Gelehrte, Wohlhabende und Adlige, die sich gegen die Kirche wandten. Die falschen Lehren breiteten sich von den Städten in die Dörfer aus. Er durfte noch nicht ruhen. Das Kloster musste noch warten.
Die Wärme der Flammen wurde weniger. Baselius hob seine Hand und spürte kurz darauf den Arm von Thomas auf seinem liegen. Der junge Mann führte ihn zurück zu seinem Zimmer. Vielleicht konnte er noch etwas Schlaf bekommen, bevor sie abreisten.
Klara nahm nichts mehr wahr. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Weder der kalte Stein noch die Wärme des Feuers drangen bis zu ihr durch. Sie hörte Stimmen um sie herum. Irgendjemand fasste sie an der Schulter und richtete sie auf. Ein großer Mann sah ihr in die Augen. Sie kannte das Gesicht, konnte ihm aber keinen Namen geben. Klara wollte sich wieder hinlegen, doch der Mann nahm sie in den Arm und führte sie vom Marktplatz weg. Die Wärme wurde weniger, und der Geruch des Feuers ließ nach. Ohne zu denken, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie liefen durch den Wald, einen Weg entlang bis zu einem Haus. Das Gebäude weckte für einen Augenblick Erinnerungen in ihr, doch wie ein Hauch in der kalten Luft waren sie bald verschwunden.
Klara ließ sich eine Treppe hinaufführen, in ein Zimmer, dessen Geruch sie kannte. Ein Bett stand vor einem kleinen Fenster, in das das Licht des Tages hineinfiel. Sie legte sich gehorsam hinein. Der Mann zog ihr die Schuhe aus und breitete eine Decke über sie.
Er redete mit ihr, schien sie etwas zu fragen, aber die Geräusche ergaben keinen Sinn. Klara blieb regungslos in ihrem Bett liegen und starrte die kahle Decke an. Als die Nacht hereingebrochen war, standen ihre Augen immer noch offen. Nur ab und zu lief eine Träne ihre Wange hinunter, als wäre dies das einzige Lebenszeichen, zu dem sie noch fähig war.
Markus saß neben Klaras Bett und blickte seine Nichte mit sorgenvollen Augen an. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte er versucht, ihr ein Freund zu sein, und über ihr Leben gewacht. Heute fühlte er sich hilflos wie selten zuvor. In Momenten wie diesen hatte er sich immer an Agnes gewandt und sie um Rat gebeten, aber Klaras weise Freundin war tot.
Er blickte in die reglosen Augen der jungen Frau. Er hatte sie nie Tochter genannt, und doch wusste er, dass sie einen Platz in seinem Herzen einnahm, der dem eines leiblichen Kindes gleichkam.
Markus schloss die Augen und versuchte, ruhiger zu werden. Er spürte den Zorn in sich aufwallen und wusste, dass er ihm nicht nachgeben durfte. Unten, zwischen den Holzscheiten, lag sein altes Schwert. Mit dem scharfen Eisen, das hier so unschuldig in ein dunkles Tuch eingeschlagen ruhte, hatte er schon viele Leben beendet. Der Mord an einem Mann der Kirche schreckte ihn nicht. Seine Seele war schon längst verdammt.
Dann öffnete er die Augen und blickte auf die zierliche Gestalt im Bett. Nach dem Tod von Agnes war er der Einzige, der noch für Klara da war. Er öffnete seine geballte Faust und versuchte, seine Wut zu vergessen. Egal, was passierte, er würde sie nicht allein lassen.
Baselius saß am Fenster seines Zimmers und spürte die Kühle der kommenden Nacht. Er hörte, wie die Soldaten die Überreste des Scheiterhaufens und der Toten wegschafften. Sie würden vor die Stadt fahren und sie in einem Loch verscharren. Sie warteten immer bis zur Nacht, damit der verbrannte Ketzer den Tag über noch als Warnung für andere Gotteslästerer stehen bleiben konnte. Der Prior sank auf die Knie und faltete die Hände. Bevor er zu Bett ging, wollte er noch die Ruhe des Gebets suchen.
Es war still in Reheim. Mit der einbrechenden Dunkelheit schliefen die meisten Bürger schon, da sie den ganzen Tag auf dem Feld verbracht oder ihr Vieh versorgt hatten. Nur für die Hinrichtung von Agnes hatten sie ihre Arbeit unterbrochen. Doch die Stille in dieser Nacht war anders als sonst. Ein Fremder hätte wohl keinen Unterschied bemerkt, wäre er durch die Gassen des Dorfes gewandert. Aber hinter den geschlossenen Läden wälzten sich die Bürger unruhig in den Betten. Die Idylle war zerstört. Die unbarmherzige Hand der Inquisition hatte sie erreicht und würde Reheim für immer verändert zurücklassen.
Friedrich Birsch lag in