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Автор: Mathilde Schwabeneder
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783990405925
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wie gewohnt in ihrem Lokal. Piera steht in der Küche und trifft mit einem Küchenjungen die letzten Vorbereitungen für den Abend. Auch Nicola geht ihr dabei zur Hand. Spätestens in einer Stunde wird das Lokal voller Gäste sein. Plötzlich nimmt Piera ein Geräusch wahr und hebt eher beiläufig den Blick. Was sie sieht, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Ein vermummter Mann im Tarnanzug und mit einer abgesägten Flinte in der Hand steht mitten im Raum und zielt auf ihren Mann. Ein zweiter stürmt in die Küche. Piera versucht sich zu wehren, doch alles geht blitzschnell. Nicola bricht vor ihren Augen unter den Schüssen zusammen. Überall in der Küche ist Blut. Die beiden Täter stürmen aus der Pizzeria und fahren mit quietschenden Reifen davon.

      »Als ich mich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschloss, wusste ich nicht, worauf ich mich einlasse.«

       PIERA AIELLO

      Wie in Trance habe sie all das erlebt und dabei an ihre kleine Tochter gedacht. Wie ein Film sei es gewesen, in den sie durch Versehen hineingeraten sei und aus dem es scheinbar kein Entrinnen gab.

      Als Piera ihre Schwiegermutter verständigt, benützt sie die inzwischen verinnerlichte Formel der Mafiafamilien: Nicola hat einen Unfall gehabt, sagt sie. Doch dann spürt sie plötzlich, dass sich etwas ändern muss und dass nur sie selbst diese Änderung herbeiführen kann. »Als ich in der Leichenhalle stand, in der man meinen Mann für die Autopsie aufbewahrte, ist meine Schwiegermutter gekommen. In der Hand hatte sie ein schwarzes Kopftuch, das sie mir aufsetzen wollte. Da habe ich mich aufgelehnt. Ich habe ihr gesagt, ich bin keine Mafiawitwe. Ich bin keine dieser Frauen, die alles genau wissen und sich trotzdem nicht auflehnen.«

      Piera weigert sich. Sie wird das Kopftuch nicht aufsetzen. Sie wird diese Mechanismen durchbrechen. »Das schwarze Kopftuch war für mich ein Zeichen der Unterdrückung und der Unterjochung der sizilianischen Frau. Und so habe ich beschlossen, alles, was ich wusste, anzuzeigen.«

       Der Weg in den Zeugenstand

      Piera hatte in all den vorhergehenden Jahren Tagebuch geführt. »Nicht für die Polizei«, wie sie sagt, »sondern für mich selbst.« Das Schreiben hatte eine Art therapeutische Wirkung auf sie und die Reflexion über das täglich Erlebte und Gehörte machte dessen Verarbeitung etwas leichter. Immer wieder hatte Nicola seiner Frau Geheimnisse aus der Welt der Mafia anvertraut. Schwarz auf weiß dokumentierte sie heimlich seine Schilderungen. So, als hätte sie geahnt, dass all diese Seiten eines Tages zu ihren besten Verbündeten würden. Doch Piera hat jetzt noch einen Trumpf in der Hand: Sie hat die Mörder ihres Mannes erkannt. Sie weiß, dass das ihren Tod bedeuten kann. Sie spürt aber auch, dass diese Kombination das Tor zu einer neuen Freiheit werden könnte.

      »Es war keine bewusste Entscheidung«, sagt sie heute. »Aber ich hatte Mörder frei herumlaufen sehen, die unschuldige Familienväter getötet hatten. Jetzt war Nicola tot. Da hat sich in meinem Inneren eine Art Licht entzündet – wie eine Art Leuchtturm –, das mir den Weg wies.«

      Piera weiß nun, sie muss sich der Justiz anvertrauen. Kurz nach dem dritten Geburtstag ihrer Tochter schleicht sie heimlich aus dem Haus. Gebetsmühlenartig wiederholt sie innerlich die Worte ihrer Großmutter väterlicherseits, der einzigen Person, der sie sich anvertraut hat. »Hab keine Angst. Wer die Wahrheit sagt, muss nichts befürchten. Hab Vertrauen.«

      Piera hat eine Verabredung mit einem Polizisten, der sie in eine weiter entfernte Kaserne der Carabinieri bringen soll. Niemand darf wissen, dass sie mit der Polizei in Kontakt ist. Doch auch die Polizisten selbst sind skeptisch. Keine Frau in der Region hat bisher jemals gegen die Cosa Nostra ausgesagt. »Ich konnte aber nicht mehr schweigen. Mein Heimatort war ein Ort der Witwen und Waisen geworden. Über 20 Jahre lang hat es eine blutige Fehde im Belice-Tal gegeben. Und damit auch bei uns in Partanna.«

      Partanna ist eine Kleinstadt mit rund 10.000 Einwohnern, in deren Zentrum ein gut erhaltenes, arabisch-normannisches Kastell liegt. Von dort hat man einen spektakulären Ausblick auf die sanften Hügel des Belice-Tals. Doch der Ort liegt abseits von Touristenpfaden und die Bewohner leben auch heute noch in erster Linie von der Landwirtschaft. Bis in die 1980er Jahre waren es vor allem Bauern und Hirten, die im kleinen Städtchen das Sagen hatten. Auch die Strukturen der Mafia waren ländlich und vergangenheitsbezogen. Doch dann kam es zu einem Generationenwechsel und damit taten sich neue Geschäftsfelder und scheinbar unversiegbare Geldquellen auf. »Es ging um Drogen und um den Handel mit Drogen, der riesige Gewinne einbrachte. Die alten Mafiosi waren aber gegen diese Art von Geschäft. Es war daher ein harter Kampf, denn es ging auch um die Frage, wer die Herrschaft über das ganze Gebiet übernimmt.«

      Diese Kämpfe, erinnert sie sich auch heute noch mit Grauen, wurden meist mit der Waffe ausgetragen. »Oft gab es sogar mitten am helllichten Tag Schießereien. Dabei wurden unschuldige Menschen erschossen oder verletzt. Es war wie im Wilden Westen.«

      In der Kaserne wird Piera einem ihr unbekannten Mann vorgestellt. Er wird ab nun ihr wichtigster Ansprechpartner sein. Es ist einer jener beiden Richter, deren tragisches Schicksal Italien bis heute prägt. »Ich bin Paolo Borsellino«, sagt er und reicht der jungen Frau die Hand. »Für deine Aussagen riskierst du dein Leben, deswegen wirst du von hier wegmüssen.«

      Am 30. Juli 1991 verlässt Piera mit ihrer kleinen Tochter und einigen wenigen Habseligkeiten wie Kleidung und Spielzeug die Insel. Anti-Mafia-Staatsanwalt Paolo Borsellino rät ihr lächelnd, »Sizilien aus ihrer persönlichen Landkarte zu streichen«. Wenige Stunden später befinden sich Mutter und Kind in Rom an einem sicheren Ort. Die stundenlangen Aussagen der vergangenen Tage haben Piera geschwächt, die neue Situation verunsichert sie und sie realisiert, dass sie wieder in einer Art Gefängnis lebt. In den kommenden Jahren werden die sie beschützenden Carabinieri ihre »Familie« werden. Frei bewegen kann sie sich nicht.

       Rita

      Vier Monate nach der Ermordung Nicolas trifft Pieras Schwägerin Rita in Rom ein. Als sie Rita kennenlernte, war die Schwester ihres zukünftigen Mannes erst sieben Jahre alt. Jetzt hat »die Kleine« beschlossen, in Pieras Fußstapfen zu treten. Auch sie will mit der Justiz zusammenarbeiten und unter Polizeischutz leben. »Wir waren nicht einfach Schwägerinnen, wir waren Freundinnen. Wir haben einander alles anvertraut.«

      Rita war elf Jahre alt, als ihr Vater Vito erschossen wurde. Nun hat sie auch den Bruder verloren und ihre Schwägerin ist de facto verschwunden. So vertraut sich die 17-Jährige ebenfalls Staatsanwalt Paolo Borsellino an. Sie hat wie Piera lange Zeit ein Tagebuch geführt, das sie Zio Paolo, also Onkel Paul, wie sie ihn später nennen wird, übergeben will. Er wird für Rita zur zentralen Figur in ihrem Leben als Kronzeugin.

      Der persönliche Preis für diesen mutigen Schritt ist hoch. Das ohnehin schwierige Verhältnis zur Mutter endet mit einem völligen Bruch der Beziehung. Rita wird von ihr verstoßen. Die eigene Mutter sagt sich von ihr los und ist sogar bereit, die »abtrünnige Tochter« – ihr jüngstes Kind – umbringen zu lassen. Doch Rita lässt sich, genau wie Piera, nicht beirren. Sie will nicht nur Vater und Bruder rächen, sie will ein ganzes System aufdecken. Beide Frauen legen schonungslos alles auf den Tisch und geben Namen, Fakten und Zusammenhänge preis.

      »Ich möchte nicht in Details gehen, selbst wenn viel Zeit vergangen ist und die Prozesse abgeschlossen sind«, sagt Piera Aiello, »aber es ging um sehr schwerwiegende Verbrechen. Es ging um Drogen- und Waffenhandel. Und vor allem ging es um die mafiösen Verflechtungen in der Gesellschaft.«

      Dank ihrer Aussagen erhalten die Ermittler erstmals Einblick in den blutigen Mafiakrieg in Partanna, der rund 30 Todesopfer gefordert hat. Mehrere Mafiosi landen hinter Gittern. Doch vor allem kann die Justiz nun Verstrickungen zwischen der Cosa Nostra und der Politik nachverfolgen. Ein Grundproblem, das das Land bis heute beschäftigt.

      Am 23. Mai 1992 erschüttert ein Attentat ganz Italien. Der Mafiajäger Giovanni Falcone wird mit seiner Frau und drei Leibwächtern ermordet. Ein auf der Autobahn deponierter Sprengsatz von 500 Kilo TNT reißt einen riesigen Krater in die Fahrbahn. Die Detonation ist weit über Palermo hinaus zu spüren und wird im ersten Augenblick als Erdbeben interpretiert.

      Knapp