»Neo«, also »neu«, war dieser Positivismus, weil es zuvor schon mal eine Lehre namens »Positivismus« gegeben hatte, erfunden vom französischen Gesellschaftswissenschaftler Auguste Comte. Dieser Mann gehört chronologisch gesehen in Hegels Epoche: Er wurde geboren, als der deutsche Philosoph keine 30 Jahre alt war. Der Positivismus, den Comte ersann, verlangte, man solle bei der Erforschung des Sozialen nicht Wissenslücken als Gelegenheiten zum Spekulieren nutzen, sich also nicht mit dem abgeben, was fehlt, dem Negativen, sondern mit Daten, mit fassbar Vorhandenem, eben Positivem (daher der Name).
Von dieser Lehre zweigten weitere Positivismen ab, etwa ein juristischer, der sich an die schriftlich fixierten Gesetze hält (statt an Moral, Gebräuche oder das subjektive Unrechtsempfinden), und ein naturwissenschaftlicher, der Messungen wichtiger findet als Vorstellungen von verborgenen Vorgängen.
Der Neopositivismus, der mit Hegel besonders ruppig abrechnete, lehnte Materialismus und Idealismus ab, weil die sich aufführen, als könnten sie darüber, was es auf der Welt gibt, gültige Aussagen treffen, ohne vorab zu klären, wie man Aussagen unanfechtbar nach »richtig« und »falsch« sortiert. Der Wiener Kreis bot eine eigene Klärung an. Sie besteht in der Festlegung, es gäbe nur drei Sorten von Sätzen:
1 wahre, die man wahr nennen darf, wenn man ihre Wahrheit durch Erfahrung, insbesondere Messung, bestätigt hat,
2 falsche, die man falsch nennen darf, wenn man ihre Verkehrtheit durch Erfahrung, inbesondere Messung, bewiesen hat, und
3 solche, die man durch Erfahrung weder bestätigen noch widerlegen kann. Diese dritte Sorte nannte der Wiener Kreis »bedeutungslos«.
Die Sätze von Hegel über Licht und Materie, die ich zitiert habe, gehören nach den genannten Kriterien zu den bedeutungslosen. Man kann nämlich durch keine Beobachtung und keinen Versuch herausfinden, ob das Licht »das allgemeine Selbst« der Materie ist oder nicht. Kein Mensch kann sich vorstellen, wie es aussehen würde, wenn das Licht nicht das allgemeine Selbst der Materie wäre.
In einem Aufsatz mit dem polemischen Titel »What Is Wrong With Our Thoughts? A Neo-Positivist Credo« (»Was stimmt nicht mit unseren Gedanken? Ein neo-positivistisches Glaubensbekenntnis«) aus dem Jahr 1991 zitiert der australische Philosoph David Stove wilde Überlegungen aus Hegels Werken, darunter die, dass der Äther (ein Stoff, von dem man seinerzeit glaubte, er fülle das All) in Gestalt der Blüten (also wohl: Planeten?) des Sonnensystems seine innere Vernunft und Totalität in eine Expansion ausgestülpt habe, oder dass das universale Prinzip des Flüssigen sich in Einzeldingen fixiere, deren numerische Einheit die »Bestimmtheit« von irgendwas sei, welche wiederum ein idealer Faktor oder ein Moment von etwas anderem darstelle.
Stove höhnt:
Ich kann gar nicht zu stark betonen, dass in diesem Werk hunderte solcher Stellen stecken, die auch noch von der weitesten Themenvielfalt handeln. So toll er in Astronomie ist, so gut ist Hegel auch in Überlegungen über Schwerkraft, Magnetismus, Hitze, Licht und Farbe, Pflanzen, Tiere, Krankheit, menschliche Anatomie, die Familie und viele andere Angelegenheiten.5
Das Motiv für den Spott ist ehrenhaft: Der Australier kann Unsinn nicht leiden. Es gefällt ihm nicht, dass man Hegels Sätze über die Welt oft mit nichts Vorhandenem abgleichen kann.
Hegels Sätze scheinen sich für die Wirklichkeit in dem Sinn, in dem Stove oder der Wiener Kreis, dessen Vorgaben Stove folgt, das Wort »Wirklichkeit« gebrauchen, gar nicht zu interessieren. Hegel betrachtet Ideen, die mit anderen Ideen und sich selbst spielen. Er scheint in der zitierten Passage von Fragen auszugehen wie: Was meine ich mit »Licht«? Was meine ich mit »Materie«? Welche Zusammenhänge gibt es in meinem Sprachgebrauch zwischen diesen Wörtern, welche Sätze kann ich damit herstellen?
Ein Satz, den Stove und der Wiener Kreis akzeptieren könnten, lautet: »Ohne Licht sieht man keine Materie«. Er scheint zumindest widerlegbar: Wenn jemandem ein Versuch einfiele, der kein Licht zulässt, bei dem einer aber trotzdem vorhandene (also messbare) Materie sieht (also nicht nur »wahrnimmt«, sonst hat man geschummelt), wäre der Satz widerlegt. Hegels oben zitierte Behauptungen aus der Enzyklopädie jedoch brechen aus der Bahn aus, auf der man Sätze wie den über die Sichtbarkeit der Materie findet. Stattdessen kombinieren diese Behauptungen Begriffe ähnlich, wie man Legosteine zusammensteckt: Wenn es nicht auseinanderfällt, reicht das, man muss es nicht noch mit etwas in der Wirklichkeit vergleichen können (wie man’s bei einem mit Lego nachgebauten wirklichen Gebäude tun könnte).
Maxwells Gleichungen sind auch Sätze. Gleichungen sagen, dass eine Sache oder ein Sachverhalt dasselbe sei wie eine andere Sache oder ein anderer Sachverhalt, weshalb man im Englischen auch »identity« für »Gleichung« sagt: »Identität«.
Gleichungen behaupten ferner, dass eine Feststellung aus einer anderen folgt. Sie benutzen, wie Hegel, Begriffe, und sie verbinden diese Begriffe, wie Hegel, indem sie Vergleiche oder Unterscheidungen einander zuordnen.
Maxwells Gleichungen ziehen ihr Vermögen zur Welterklärung aus dem Umstand, dass sie Ordnung in die Vielfalt der Erscheinungen bringen. Diese Ordnung ist universal. Das bedeutet, die Gleichungen gelten für das, wovon sie reden, nicht nur am Dienstagabend, nicht nur in Ägypten, im U-Boot oder auf einem weit entfernten Saturnmond, sondern immer und überall. Die moderne Naturwissenschaft nennt Aussagen mit derart umfassendem Geltungsanspruch »Naturgesetze«.
Falls es überhaupt keine derartigen Naturgesetze gibt, lässt sich nur Zeug über die Welt sagen, das manchmal stimmt und manchmal nicht. Nach den Regeln des Wiener Kreises würde dies unser gesamtes Reden und Denken über die Welt bedeutungslos machen. Das Verfahren, Sätze in Handlungsanweisungen und Beobachtungsvorhersagen zu übersetzen, um herauszukriegen, ob sie wahr, falsch oder bedeutungslos sind, könnte man sich sparen.
Es ließen sich nur noch wahre Sätze sagen und schreiben wie: »Gestern um 19 Uhr Ortszeit habe ich in Frankfurt am Main in der Hellerhofstraße 4 im vierten Stock nachgerechnet, ob das, was auf der linken Seite der ersten von Maxwells Gleichungen steht, wirklich das gleiche ist wie das, was auf der rechten Seite steht; dort und da hat es gestimmt«. Da eine Falsifizierung nur falsche Naturgesetze entlarvt, es aber wahre geben muss, damit man überhaupt Wissenschaft treiben kann, hat der Neopositivismus ein Problem: Wie verifziert man eigentlich den Satz »Dieses Gesetz gilt immer und überall.«?
Den äquivalenten Satz: »Dies oder das ist ein Naturgesetz.« könnte man nur verifizieren, indem man dies oder das immer und überall durchtestet. Das aber ist unmöglich.
Mit diesem niederschmetternden Faktum sind die peinlichen Schwierigkeiten nicht zu Ende. Wenn Leute Hegel dafür verachten, wie er Begriffe in Begriffe schraubt, ohne in der Wirklichkeit nachzugucken, während sie Maxwell dafür bewundern, dass er die Geheimnisse des Elektromagnetismus entschlüsselt, dann müssen sie sich fragen lassen, woher sie wissen, dass Maxwells Arbeit auf Papier und im Kopf gute und richtige Begriffsarbeit ist, während die von Hegel schlecht und falsch sein soll.
Mit dem Verweis auf Beobachtung und Experiment als Kontrollinstanzen kommen sie nicht so weit, wie sie glauben: Die elektromagnetischen Wellen, von denen Maxwells Gleichungen handeln, wurden erst mehrere Jahrzehnte nach Abschluss der mathematischen Arbeit des Schotten von seinem deutschen Kollegen Heinrich Hertz im Experiment nachgewiesen. Es war also zumindest möglich, die Denkarbeit, die diese Wellen begriff, ohne Nachsehen in der Natur zu einem triftigen Ende zu bringen. Wieso war das möglich?
Was heißt das überhaupt: Die Natur gehorcht Gesetzen?
Gesetze sind keine Sachen. Man kann sie nicht messen, nur ihre Wirksamkeit. Gesetze sind wie Zahlen: Man kann drei Äpfel beobachten, drei Bücher aus dem Verlag Reclam, drei Beispiele für Ideen von Hegel; aber kein Mensch hat je eine »3« gesehen außer als Symbol. Das bezeichnet einen abstrakten Gedanken, den man auf abzählbare Einzeldinge oder Einzelsachverhalte anwenden kann.
Wenn die Welt aus messbaren Sachen sich aber zerlegen lässt in Fälle der Anwendbarkeit nicht messbarer Begriffe, und wenn ihr Verhalten Sätzen gehorcht, die sich denken und schreiben, aber