„Frohe Weihnachten, Frau Solltau! Im neuen Jahr erhalten sie den Lohn für die geleisteten Dienste“, sagte der Pastor und verabschiedete sich.
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Bis zum Beginn des neuen Jahres hatte Hans Ferien. Es hatte geschneit. Hans und Robert bauten auf dem Bauernhof einen Schneemann. Ein kaputter Stahlhelm, ein kleiner Ast, eine zerfrorene Mohrrübe und schwarze Kohlenstücke schmückten diesen. Frau Pfeiffer hatte Plätzchen geschenkt, die Hans und Robert mit der Mutter nachmittags zum heißen Lindenblütentee gemeinsam aßen.
Die folgenden Wochen und Monate verliefen annähernd so wie die vergangenen Wochen. Am Fastnachtstag ging Hans von Bauernhof zu Bauernhof und sang das Lied vom „Kleinen König“. Die Mutter hatte für ihn eine Larve aus Papier gefertigt und bemalt, die Hans sich vor das Gesicht band. In der Hand hielt er einen Stoffbeutel, in welchen er die geschenkten Sachen hineinlegte. Es waren Kuchen, Bonbons, Äpfel und getrocknete Pflaumen, die er von den Bauern erhalten hatte und zu Hause mit Robert teilte.
Frau Solltau sammelte mit Frau Fettig in den folgenden Tagen wieder trockenes Holz im Wald. Die kalten Temperaturen machten das Leben unerträglich. Einmal gab es durch die Gemeindeverwaltung Braunkohlengruß für Familien mit Kindern. Auch Frau Solltau erhielt eine begrenzte Menge. Hans holte den Braunkohlengruß im Eimer von der Ausgabestelle der Gemeinde und schüttete diesen in den Kohlenkasten, in der Nähe des Ofens. Die Mutter half Hans beim Ausschütten. Er lief mehrmals zur Abgabestelle. Sein Gesicht war mit Schweiß- und Kohlenstaub bedeckt. Im Auftrag der Mutter brachte er einen vollen Eimer mit Kohlengruß zu Frau Fettig. Sie hatte keine Kinder und war gehbehindert.
„Für dich habe ich einige Kekse, die ich selbst gebacken habe. Hoffentlich schmeckten sie dir?“, sagte Frau Fettig und streichelte Hans über die dünnen Wangen.
„Danke! Frau Fettig, ich werde sie mit Mutti und Robert teilen“, sagte Hans und beabsichtigte noch einen Eimer mit Gruß zu holen. An der Ausgabestelle hatte der Angestellte festgestellt, dass Hans schon mehrmals Kohlen geholt hatte.
„Du bekommst nichts mehr, geh nach Hause, du Kohlenklau“, sagte er erbost und drohte mit der Kohlenschaufel.
Hans ging nach Hause, gab die Kekse der Mutter und wusch sich das verschmutzte Gesicht und die Hände. Danach setzte er sich auf den mit einem Deckel verschlossenen Kohlenkasten und las eine spannende Geschichte aus einem Buch, das Frau Seitz ihm geschenkt hatte.
Abends gingen Hans und Robert in den Pferdestall. Der Knecht fütterte die Pferde des Bauern. Er machte die Tröge sauber, mistete aus, schüttete Hafer in die Tröge und gab den Pferden Wasser zum Saufen.
Danach striegelte er die Pferde. Hans durfte helfen. Robert schaute zu. In Ostpreußen hatte der Opa auch Pferde gezüchtet. Hans erinnerte sich gern an die Zeit zurück.
Die Tage vergingen schnell. Die Mutter arbeitete bei den Bauern, sobald sie gebraucht wurde. Im Winter half sie beim Dreschen des im Herbst eingefahrenen Getreides, im Frühjahr bei der Bodenbearbeitung. Sie besserte die Kleidung der Bauern aus und sammelte Holz. Hans ging täglich und gerne zur Schule.
Im Frühjahr wurde es wärmer. Jetzt ging er barfuß. Seine Füße waren immer schwarz vom Öl des Holzfußbodens im Schulraum. Abends schruppte Hans die Füße mit einer harten Bürste sauber. Die Mutter half ihm dabei. Barfuß gehen war für Hans ein schönes Gefühl. Gern ging er im Matsch und in den Wasserrinnen, ungern auf Stoppelfeldern. Die Stoppeln zerspickten und zerkratzten die Knöchel, die dann beim Waschen besonders wehtaten.
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Frau Solltau bereitete die Reise zu Opa und Oma vor. Bettwäsche und persönliche Kleidung wurden in die Koffer gepackt. Opa erhielt Schnupftabak, den Frau Solltau für ein Paar Ohrringe eingetauscht hatte. Die Mutter sollte Kernseife bekommen. Anfang Juli wurde die Reise angetreten. Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichte die kleine Familie den Bahnhof. Die Zugfahrt dauerte zwölf Stunden. Die Reisewagen waren überfüllt. Freie Sitzplätze gab es nicht mehr und so saßen die Kinder auf den Gepäckstücken. Sie mussten mehrmals umsteigen, bis der Zug mit vier Stunden Verspätung den Zielbahnhof erreichte. Opa und Oma warteten mit den Pferden und einem kleinen Kastenwagen vor einem kleinen alten Bahnhof. Oma, Opa und die Mutter weinten und schluchzten. Drei lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Inzwischen war viel passiert. Der Sohn und Bruder war zum Kriegsende in Albanien gefallen. Andere Verwandte waren auf der Flucht gestorben. Tante Anna, die Schwester der Mutter, war als Rotkreuzschwester bei den Engländern in der Kriegsgefangenschaft.
Die Großeltern waren über den Landweg von Ostpreußen mit einem Gespann in Richtung Westen geflüchtet und über schlechte Straßen bis nach Westmecklenburg gefahren. Hier erhielten sie in einem kleinen Ort, bei einem armen Bauern, einen Schlafraum. Dort durften sie auch ihre Pferde und den Wagen unterstellen und bleiben. Der Bauer gab ihnen Essen zu den Mahlzeiten. Am Tage arbeiteten die Großeltern im Stall, in der Scheune und auf dem Feld. Der Bauer selbst hatte keine Kinder, die Hausarbeit machte eine Wirtschafterin. Er lebte mit seinen Eltern in einem mit Reet gedeckten Haus. Wohnanlage, Stallungen und Tenne waren unter einem Dach.
Auf den Besuch der Tochter und Enkelkinder haben sich die Großeltern sehr gefreut. Der Opa nahm Hans in seine starken Arme.
„Mein Söhnchen, bist du groß geworden“, sagte er zu Hans.
„Opa, ich freue mich hier bei dir zu sein. Das sind ja unsere Pferde aus Ostpreußen. Darf ich reiten?“, fragte Hans.
„Du darfst kutschieren“, sagte der Opa und meinte es ernst.
Bei der Ernte brauchte der Bauer jede Hand. Nach einer halbstündigen Kutschfahrt waren sie im Dorf angekommen. Sie brachten das Gepäck in den Wohn- und Schlafraum der Großeltern. Dann wurde die kleine Familie dem Bauern vorgestellt und jeder erhielt eine warme Mahlzeit.
Es war ein schöner Sommertag. Frau Solltau ging mit den Kindern nachmittags mit aufs Feld. Opa und der Bauer mähten das Getreide mit einer Sense. Frau Solltau band die gemähten Getreidehalme zu Garben und stellte diese zu Hocken auf. Hans half beim Aufstellen. Gegen Abend holte Opa den Leiterwagen und die schweren Garben wurden aufgeladen. Der hoch beladene Wagen wurde auf die Tenne des Hauses gefahren. Die Garben wurden unter das Dach des Hauses gestakt und sollten im Spätherbst und Winter gedroschen werden.
Hans durfte, wie Opa es versprochen hatte, kutschieren. Das seitliche Gehen neben dem Fuhrwerk und die Handhabung der Zügel bereiteten ihm Schwierigkeiten, was der Opa erkannte. Auf der Fahrt zurück zum Feld durfte Hans reiten und vom Pferd aus kutschieren. Der Wallach war ein großes ruhiges Pferd und ließ sich mit den Zügeln und durch Zurufen leicht lenken. Die daneben laufende Liese richtete sich nach dem Wallach. Das klappte ganz gut und machte Hans Spaß. Er wurde schnell sicher beim Führen der Pferde. Der Opa begleitete den Wagen bei mehreren Fahrten. Schnell kletterte Hans über die Deichsel auf den Pferderücken des Wallachs, griff nach den Zügeln, rief „hüh, hüh“ und los ging die Fahrt mit dem voll mit Getreidegarben beladenen Wagen. Auf dem Rücken des Pferdes lenkte Hans den Wagen auf der Straße bis zum Feld, auf dem Feld und zurück. Der Opa erklärte Hans das Anhalten des Gespanns. „Halt, Rudi“, rief der Opa. Rudi blieb stehen und mit ihm die Liese.
In den folgenden Wochen wurde das gereifte Getreide – Weizen, Gerste und Hafer – gemäht und in Garben gebunden. Diese wurden in Hocken aufgestellt. Nachmittags wurden die Garben auf den Leiterwagen geladen und auf die Tenne gefahren.
Hans spannte die Pferde aus und an einen abgeladenen Wagen an. Er brachte das Gespann zurück aufs Feld, wo der Bauer, Opa und die Mutter schon warteten. Robert blieb in dieser Zeit bei der Oma.
Nachmittags