Als Liang nach Hause zurückkommt, bemerkt sie den strengen Gesichtsausdruck ihres Vaters.
„Was hast du in dem verfluchten Zimmer der Langnase so lange gemacht?“, fragt er Liang mit ernster Stimme.
Liang bleibt wie erstarrt stehen und schaut zu Boden. Die Sekunden der Stille kommen ihr wie eine Unendlichkeit vor. Dann bricht Liang zusammen, schluchzt und fängt an zu weinen.
Während Wilhelm Kurz unter dem Moskitonetz bereits in einen unschuldigen Schlaf gesunken ist, erzählt Liang ihrem Vater stockend und mit tränenerstickter Stimme, dass diese elende Langnase sich an ihr vergangen hat. Ungläubig starrt Heng seine Tochter an. Er kann ihre Worte nicht begreifen. Dann holt er aus und schlägt seine Tochter rechts und links ins Gesicht. Danach will er wutentbrannt in den Nachbarbungalow stürmen und diesen schrecklichen Mistkerl, der ihm von Anfang an unsympathisch war, wie er jetzt meint, den Garaus zu machen. Er hat schon die Messerklinge in der einen Hand und ist dabei, die Klinke der Tür herunterzudrücken.
Doch dann hält er inne, unterdrückt seinen ersten Impuls, versucht sich etwas zu beruhigen und fängt an nachzudenken. Wenn er jetzt zur Tat schreitet, kommt alles heraus. Zwar ist der Schänder dann tot, aber die Schande seiner Familie ist auch öffentlich. Nein, sagt er sich. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, ist die Tugend der Stunde.
Dieses Jahr steht im Sternzeichen des Schweins, dem letzten im zwölfjährigen Zyklus des chinesischen Kalenders. Im nächsten Jahr fängt es mit der Ratte wieder von vorne an. In erster Linie wird das Schwein mit Fruchtbarkeit und Potenz verbunden. Ein Kind im Jahr des Schweins zu bekommen gilt als großes Glück.
Aber natürlich nicht unter diesen unwürdigen Umständen, denkt Heng. Eine Schande für die ganze Familie.
Eigentlich steht das Schwein für Charakterzüge wie Mitgefühl, Großzügigkeit und Fleiß. Man genießt die Gesellschaft anderer und bringt den Mitmenschen viel Freude. Doch bei aller Gutherzigkeit des Schweins, wenn es verletzt wird – und das ist hier der Fall – kann es richtig böse werden. Und Heng ist richtig böse. Dazu hat er wohl auch allen Grund. So meint er.
Außerdem genießen es Schweine, mehr auszugeben als zu sparen. Wie wahr, wie wahr, sagt sich Heng. Wirklich sparsam ist auch er, Heng, in diesem Jahr nicht gewesen. Aber sein Neffe Low hat es vorgemacht, wie man die Deutschen um ihr Geld erleichtern kann. Heng beschließt, von dieser deutschen Langnase eine erhebliche Geldsumme als Sühnegeld zu fordern. Dazu will er den Deutschen nach Singapur fahren lassen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. In Singapur leben viele Mitglieder seines weitverzweigten Familienclans. Zum einen hat Heng dadurch größere Zugriffsmöglichkeiten auf die Langnase und zum anderen kommt die Langnase dort an sehr viel mehr Geld heran, als hier auf der abgeschiedenen Insel Langkawi. Er soll Geld als Sühne bluten. Das wird Hengs Rache sein.
Erste Fliege.
Wenn diese Langnase ihre Zustimmung zur Unterzeichnung des Vertrags über die Kohlenstation auf Langkawi gibt, wird er, Heng, das als Mittelsmann zum Sultan über Heinrich Adler erfahren. Dann kann er seine Provision einstreichen.
Zweite Fliege.
Vielleicht, so seine Überlegung, könnte er sogar drei Fliegen mit einer Klappe erlegen. Diese unbedarfte Äußerung der Langnase über Langkawi als Stützpunkt könnte ihm eventuell noch von ganz anderer Seite, die an dieser Information interessiert ist, ein zusätzliches hübsches Sümmchen einbringen. In Vorfreude reibt sich Heng schon einmal die Hände und lächelt vor sich hin.
Dritte Fliege.
So, und das Töchterchen wird mit der erstbesten Dschunke in Begleitung von Onkel Chu schnellstens zu ihrem Verlobten nach Sumatra in Niederländisch-Indien gebracht. Dort muss Liang alles unternehmen, damit die versprochene Heirat möglichst rasch vollzogen werden kann, bevor irgendetwas ruchbar wird. Der zuverlässige und erfahrene Onkel Chu wird das Kind schon schaukeln. Im übertragenen Sinne natürlich. Da ist sich Heng sicher.
Am anderen Morgen ist weder von Heng noch von seiner Tochter etwas zu sehen. Verwundert nimmt Wilhelm Kurz das tropische Frühstück, das ihm bereitet worden ist, mit viel Obst, darunter zahlreiche Mangofrüchte, die ihm sehr behagen, zu sich. Etwas merkwürdig findet er es schon, dass der am gestrigen Abend noch so eifrige Gastgeber nicht anwesend ist, aber seine Meinung hat Wilhelm Kurz sich ja schon gebildet. Und nur darauf kommt es letztendlich an. Mission erfüllt, sagt er zu sich selber. Nun müssen nur noch die Schießübungen durchgeführt werden. Das wird einige Zeit dauern und anschließend wird die nächste Etappe Singapur in Angriff genommen werden, wo er gedenkt, seinen Geheimbericht zu verfassen und ihn nach Berlin zu senden.
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