»Mutter«, ergänzte ich. Sie kann sich nicht überwinden, das Wort in den Mund zu nehmen.
»Du sollst das nicht sagen«, fauchte sie und warf über die Schulter einen Blick auf die Tür. Sie trat sie zu. Sie hatte nackte, dreckige Füße, und ihre dicken Onkels waren schief, weil sie immer in zu spitze Schuhe gequetscht wurden.
»Was soll ich denn sonst zu dir sagen?«, fragte ich. Ich wurde langsam wütend.
»Ich habe schließlich einen Namen.«
»Und ich habe eine Schwester!«
»Jetzt halt endlich den Rand!«, schrie sie. »Sie will nichts mit dir zu schaffen haben. Guck dich doch an.«
»Woher willst du das wissen?«, schnauzte ich sie an. »Wir haben uns immer gut vertragen.«
»Das ist ewig her.«
»So lange auch wieder nicht.«
Dann hörten wir, trotz der Brüllerei, plötzlich die Klospülung.
Ma stand auf. Sie nahm ihre Tasse und den Kaffee, den ich mir gemacht hatte. Sie wollte ins Schlafzimmer.
»Die Tür findest du alleine«, sagte sie zum Abschied.
Am liebsten hätte ich was zerdeppert.
Aber frühes Training zahlt sich aus, und wenn wir als Kinder überhaupt eine Lektion gelernt haben, dann war es die, immer auf Zehenspitzen um Mas Männer rumzuschleichen. Wenn Ma einen Mann im Haus hatte, sind wir entweder schnell verduftet oder wir haben so getan, als wären wir nicht da. Ma war nie besonders wählerisch mit den Typen, die sie anschleppte.
Das war im Grunde ihr Unglück.
Ich ging ins Wohnzimmer. Mir kam der Gedanke, dass Ma eigentlich nie Kinder hätte haben dürfen. Aber sie hat sich welche angeschafft. Und eins davon war ich.
Das andere war Simone.
Das Wohnzimmer war die reinste Müllkippe. Alter, kalter Rauch hing dick in der Luft. Bierdosen und Aschenbecher waren vom Couchtisch auf den Fußboden gewandert. Irgendwer hatte am Fernseher eine Flasche zertrümmert, und ein angebissener Hamburger war in den Teppich getreten worden. Im Großen und Ganzen sah es aus wie auf einer von dieser Landstraßen, für die ich nichts übrighabe.
Hätte Ma mal einen Freund wie Harsh gehabt, dachte ich, wäre alles viel sauberer gewesen. Und Harsh wäre vielleicht mein …
Daran durfte ich nicht denken.
Das, wohinter ich her war, lag hinter dem Fernseher unter einem Stapel von Mas »Wahre Liebe«-Illustrierten. Sie liest den Schrott nicht mehr – sogar meine Ma lernt manchmal noch was dazu –, aber immer, wenn sie umzieht, schleppt sie den alten Plunder mit, ihre Bücher, wie sie dazu sagt.
Unter Mas Büchern lag ein altes Fotoalbum. Unsere Oma hat es Ma hinterlassen, als sie gestorben ist. In dem Album klebte ein Bild, das ich sehen wollte. Es war das letzte Foto, auf dem Simone und ich zusammen drauf waren.
Ich blätterte das Album rasch durch. Die Bilder von Ma als jungem Mädchen wollte ich nicht sehen. Davon kriege ich immer einen Kloß im Hals, weil sich Simone als Zehnjährige und meine Ma als Zehnjährige sehr ähnlich gesehen haben. Unheimlich ähnlich.
Ich fand die Seite. Da waren wir, bei unserer Oma im Wohnzimmer.
Ich weiß noch ganz genau, wann das Bild gemacht worden ist. An Simones zwölftem Geburtstag, zwei Tage, bevor sie in Pflege kam und weggeholt wurde. Also war es zwei Tage vor dem Tag, an dem ich sie zum letzten Mal gesehen habe.
Sonst waren wir immer zusammen weggeschickt worden. Und wenn wir zurückdurften oder abgehauen waren, haben wir uns bei Ma wiedergetroffen. Und wenn wir Ma nicht finden konnten, sind wir zu unserer Oma gegangen.
Aber damals haben sie uns getrennt. Und ungefähr ein Jahr später ist dann meine Oma gestorben.
Simone ist nie wieder nach Hause gekommen.
Ich habe später gehört, dass sie zu Pflegeeltern gekommen ist, und bei denen muss es ihr wohl gefallen haben, weil sie dageblieben ist. Oder, was eher wahrscheinlich ist, sie hat ihnen gefallen, und sie haben sie zum Dableiben überredet.
Es war schwer, Simone nicht zu mögen, aber ich muss dir sagen, dass sie kein charakterfester Mensch war. Sie ließ sich leicht überreden. Vor allem, wenn ich nicht bei ihr war und sie nicht daran erinnern konnte, wo wir hingehörten.
Ich starrte lange auf das Gesicht von früher. Sie war so hübsch. Kaum einer wusste, dass wir Schwestern waren. Ich war größer als sie, obwohl ich ein Jahr jünger bin. Und hübsch bin ich noch nie gewesen.
Am allerwichtigsten war es, ihr Gesicht nicht zu vergessen. Manchmal habe ich einen Alptraum. Ich gehe die Straße runter, und eine Bettlerin hält mir die Hand hin. Und ich gehe einfach vorbei. Ich erkenne Simone erst, als sie mich ruft. »Eva«, sagt sie. »Ich hätte dich überall wiedererkannt. Aber du hast mich vergessen.«
Aber ich habe sie nicht vergessen. Und eines Tages finde ich sie. Es muss einfach so kommen, weil schließlich jeder sagt, dass Blut dicker ist als Wasser. Und deshalb weiß ich auch, dass Simone nach mir sucht. Sie sucht mich bestimmt. Und sie kann mich nur finden, wenn sie zuerst Ma findet, weil ich viel erlebt habe, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Ma hat auch viel erlebt, aber wenigstens ist sie im selben Stadtviertel geblieben. Und darauf setze ich. Darum gehe ich Ma alle paar Monate besuchen. Darum und natürlich auch, weil Blut nun mal dicker ist als Wasser, und das gilt sogar für Ma.
Irgendeiner muss schließlich die Familie zusammenhalten.
5
Die Geräusche, die aus Mas Schlafzimmer kamen, hörten sich so an, als ob jemand einen Asthmaanfall hatte.
Ich wusste, dass ich noch ein bisschen länger ungestört im Wohnzimmer rumschnüffeln konnte. Dazu hatte ich nicht oft Gelegenheit. Ich klappte das Album zu und fing an, den Rest des Bücherstapels nach Briefen zu durchsuchen.
Bei Ma musste man nämlich auf alles gefasst sein. Sie war imstande, Briefe ungeöffnet wegzuwerfen, wenn sie Angst hatte, es könnten Rechnungen oder Vorladungen sein.
»Nichts wie Scherereien«, sagte sie dann. »Scherereien mit einer Briefmarke auf dem Umschlag.«
Manchmal, wenn sie wieder ein paar Schnäpse zu viel gekippt hat, befördert sie einfach alles, was durch die Tür kommt, mit einem Fußtritt in die Ecke. Sie könnte eine halbe Million im Toto gewonnen haben oder am nächsten Tag wegen Sozialhilfebetrug vor Gericht müssen. Sie würde es nie erfahren.
Ich musste mit einer Sozialarbeiterin auf die Beerdigung von meiner Oma. Dafür haben sie mich extra rausgelassen.
Ma war nicht da. Sie sagte, es wäre ihr zu sehr an die Nieren gegangen, aber wenn du mich fragst, hatte sie einfach einen im Kahn.
Ich ging hin, weil ich dachte, Simone wäre da. Und – jetzt hältst du mich bestimmt für eine richtige Kuh – ich war Oma richtig dankbar dafür, dass ich ihretwegen aus dem Jugendheim rauskonnte und Simone sehen durfte.
Aber Simone war auch nicht da.
Das war die große Frage, die sich mir hinterher gestellt hat: Warum nicht? Warum war Simone nicht gekommen?
Ma wusste es nicht. Sie war stinksauer auf mich, weil ich sie deswegen andauernd gelöchert habe.
Monate später, als ich meine Strafe abgesessen hatte und wieder zu Hause war, fand ich einen Brief. Er war von Simones Sozialarbeiterin, und sie hatte geschrieben, sie wäre nach eingehenden Gesprächen und Beratungen mit Simones neuer Familie zu dem Schluss gekommen, dass es nicht im Interesse des Kindes wäre, es einer solchen emotionalen Belastung auszusetzen.
Mit