Es war Gräfin Sztáray, die die Aufbahrung vornahm. Sie schloss der Toten, deren Mund ein sanftes Lächeln umspielte, die Augen, legte einen Rosenkranz um ihre Finger und faltete ihr die Hände auf der Brust. Mithilfe einer Hotelbediensteten brachte sie das Sterbezimmer in Ordnung, stellte ein Kruzifix samt brennenden Kerzen auf, besorgte Blumenschmuck. Sie empfing auch den Totenbeschauer, der die Sterbeurkunde mit dem Todeszeitpunkt 14 Uhr 40 ausfertigte.
Elisabeths umsichtige Hofdame Irma Sztáray. Aufnahme des Budapester Hoffotografen Strelisky. Ihren Dienst bei der Kaiserin hatte die Gräfin 1894 als 30-Jährige angetreten, 1909 veröffentlichte sie ihr Buch »Aus den letzten Jahren der Kaiserin Elisabeth«.
Um 17 Uhr langte die Todesnachricht bei Graf Paar ein, der gerade die Abreise des Kaisers zu den Korpsmanövern bei Leutschau in der Slowakei vorbereitete. Zusammen mit Graf Agenor Goluchowski, dem Minister des Äußeren, informierte er den Monarchen. Die heroische Selbstbeherrschung des Kaisers überraschte seine Umgebung. Wortlos hielt er den Kopf in die Hände gestützt, bis er lapidar murmelte: »Mir bleibt doch gar nichts erspart auf dieser Welt.« An den großen Manövern, zu denen man auch Kaiser Wilhelm II. erwartete, wollte er trotz allem teilnehmen. Pflichterfüllung im Rahmen seines Amtes hatte für den Monarchen oberste Priorität. Aus Gründen der Staatsräson bewog man ihn zum Verbleib in Wien.
Zur selben Zeit unterzog Untersuchungsrichter Léchet die mit den Tränen kämpfende, unter Schock stehende Gräfin Sztáray einer ersten Befragung. »Sie erklären, dass die Tote Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, ist?«, fragte er misstrauisch. »Im Gästeregister steht allerdings Gräfin von Hohenembs!« »Ihre Majestät reiste inkognito«, lautete die Antwort, die später der Hoteldirektor Monsieur Mayer bestätigte. »Das ist bei privat reisenden gekrönten Häuptern nicht unüblich«, erklärte er. »Damit entgehen sie protokollarischen Verpflichtungen, brauchen keine Einladungen annehmen und auch keine aussprechen.«
Bei Kaiserin Elisabeth wäre es anders gewesen. Diese zurückhaltende, fast scheue Dame wollte tatsächlich von Fremden nicht erkannt werden. Aus diesem Grund hatte man auch nicht die schwarz-gelbe Flagge der Doppelmonarchie auf dem Hotel gehisst. Aber jeder wusste, wer die Dame war, es war kein Geheimnis. »Wir teilten dies auch den Zeitungen mit. Selbstverständlich wurde sie von uns mit ›Majestät‹ angesprochen und nicht mit ›Gräfin‹. Das wäre ein Fauxpas gewesen«, klärte der im Umgang mit Kaisern und Königen versierte Direktor die Polizeibehörden auf.
Irma Sztáray gab Léchet genaue Auskünfte über die Person der Kaiserin, ihren Kuraufenthalt in Caux bei Territet, ihren Besuch in Genf und den Ablauf der Schreckenstat. Man fertigte darüber gerade ein Protokoll an, als die noch anwesenden Ärzte den Untersuchungsrichter allein zu sprechen wünschten. Danach erklärte Léchet der Hofdame, dass nach Schweizer Recht gegen einen Täter Mordanklage nur nach Vorlage eines Autopsieberichts erhoben werde könne. Vor allem bei den mysteriösen Begleitumständen des vorliegenden Falls sei dies unumgänglich. Man bedauere, aber auch bei einer Kaiserin von Österreich könne man keine Ausnahme zulassen. Es sei Aufgabe der Schweizer Behörden, den medizinisch einwandfreien Nachweis der Todesursache zu erbringen, eventuelle Theorien von plötzlichem Herzversagen oder Schlaganfall zu widerlegen und alle haltlosen Gerüchte zu unterbinden.
Léchet bat die Gräfin, sich beim Wiener Hof – so rasch als möglich – für die Erlaubnis zu einer Autopsie einzusetzen. Die Hofdame lehnte entsetzt ab. Dies überschreite ihre Kompetenzen. Der insistierende Untersuchungsrichter betonte, dass aufgrund der hochsommerlichen Hitze Eile geboten sei.
Auch Graf Adam von Berzeviczy, der Haushofmeister der Ermordeten, suchte beim Wiener Hof um eine »innere Leichenschau« an, wurde jedoch brüsk abgewiesen. Danach versuchte er die Schweizer Polizei mit spitzfindigen protokollarischen Argumenten von der Obduktion abzubringen: »Die Leiche im Beau-Rivage ist jene der Gräfin von Hohenembs. Erst wenn die Tote die Grenze passiert, wird sie wieder zur Kaiserin von Österreich!«
Schließlich telegrafierte Graf Kuefstein am 11. September um 9 Uhr nach Wien:
»Die Professoren erklären, dass Öffnung des Herzens unbedingt notwendig ist, um die Tiefe des Stichs und unmittelbare Todesursache zu constatieren. Bitte dringend um Genehmigung, da nicht länger gewartet werden kann.« Schließlich lenkten die Schweizer Behörden ein. Aus Rücksicht auf die Gefühle des Kaisers sei man zu Konzessionen bereit. Drei angesehene Ärzte, Professoren und beeidete Gerichtsmediziner der Universitäten Genf und Lausanne, erklärten, sich auf eine sogenannte »partielle Obduktion« der Umgebung der Wunde und des Herzens beschränken zu wollen.
Feudaler Luxus für gut betuchte Gäste: die Empfangshalle des Beau-Rivage, das 1865 von Jean-Jacques Mayer gegründet wurde. In der Suite 119/120 verbrachte Elisabeth inkognito als »Gräfin von Hohenembs« ihre letzte Nacht.
Am 11. September gegen 12 Uhr traf dann die Zustimmung des Kaisers, der sich lange gegen eine derartige, ihm unverständliche Pietätlosigkeit wehrte, ein. Den Ausschlag hatte die Formulierung »partielle Obduktion« gegeben. Graf Kuefstein telegrafierte erleichtert nach Wien: »Tiefen Dank für die beiden Telegramme. Meine heute abgegebenen Berichte werden bestätigen, dass ich ganz im Sinne der Allerhöchsten Intentionen für die Beschränkung auf das unumgänglich Notwendige bereits eingetreten bin und dafür die sicherste Verbürgung erhalten habe. Morgen soll eine imposante Trauerkundgebung der Bevölkerung vor dem Hotel stattfinden.«
Noch um 14 Uhr des selben Tages fand dann bislang Unvorstellbares statt – die Obduktion einer Habsburgerkaiserin in der Hotelsuite eines Genfer Hotels. In dem hermetisch geschlossenen, heißen Raum herrschte eine dumpfe Atmosphäre. Die Tote verströmte bereits den typischen Leichengeruch. Die Professoren Auguste Reverdin, Hippolyte Jean Gosse und Louis Mégevand, alles renommierte Pathologen der Universitäten von Genf und Lausanne, banden Gummischürzen um und krempelten ihre Hemdsärmel auf. Dies geschah in Beisein zahlreicher Zeugen, unter ihnen Georges Navazza und Graf Berzeviczy sowie Graf Kuefstein als Vertreter der k. u. k. österreichisch-ungarischen Monarchie, aber auch die Hofdame Irma Sztáray. Anwesend waren auch noch zwei weitere Mediziner: der Genfer Arzt Dr. Étienne Golay und Dr. Mayor, Professor an der medizinischen Fakultät in Genf.
Amtierte seit 1897 als Generalstaatsanwalt in Genf: der brillante Redner Georges Navazza. Gemälde von Ferdinand Hodler, 1916. Der »Fall Lucheni« trug entscheidend zu seiner Popularität bei.
Die Kommission beginnt mit einer genauen Untersuchung des mit einem weißen Laken bedeckten, auf einem Hotelbett liegenden Leichnams. Man vermerkt die Daten der toten Kaiserin, die im 61. Lebensjahr gestanden war, misst sie ab und stellt eine Größe von 172 cm fest. Ihren linken Arm ziert ein Anker, den sich Elisabeth einst gegen den Protest ihres Gatten aus Liebe zum Meer hatte eintätowieren lassen. Ihr prächtiges, dichtes Haar ist kastanienbraun. Ob die im Hinblick auf das fortgeschrittene Alter ungewöhnliche Farbpracht echt oder künstlich ist, ist irrelevant und bleibt ohne Prüfung. Das entspannte Gesicht der Toten legt ein ruhiges Hinscheiden ohne schmerzhaften Todeskampf nahe. Keinerlei Ausfluss aus Nase und Mund. Der Teint weist eine blassgelbe Farbe auf, die Temperatur der Haut wird als »lauwarm« angegeben, Indizien kündigen die beginnende Leichenstarre an. Man stellt nur sehr geringes Unterhautfettgewebe fest), auf dem Unterleib sind Schwangerschaftsstreifen zu sehen, auf den Beinen der Toten finden sich geringe Zeichen von Ödemen, die nach Vermutung der Ärzte von Hungerkuren stammen.
Vierzehn Zentimeter unter dem linken Schlüsselbein, vier über der linken Brustspitze, zeichnet sich die Wunde in Form eines V ab. Aufgrund der Vereinbarung mit dem Kaiserhaus in Wien