Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sibylle Zambon
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783990401583
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für sich beanspruchen können? Was genau macht einen Künstler aus?

      „Er ist eben ein Künstlertyp.“ Ein oft gehörter Satz. Eine Mischung aus Bewunderung und Entschuldigung, aus der man nicht ganz klug wird. Ein Satz, der vieles offen lässt, anderes ausschließt, aber mit Sicherheit bestimmte Vorstellungen in Ihnen weckt. Natürlich gibt es nicht den Künstler, ebenso wenig wie es den Pfarrer, den Lehrer oder den Arzt gibt, und doch scheinen sich gewisse Eigenschaften, Erwartungen und Ansprüche unter dem Begriff Künstler zu subsumieren.

      Sie sind gefragt: Mit welchen positiven oder negativen Eigenschaften charakterisieren Sie den „Künstlertyp“?

      Antwort: Wie wär’s mit: außergewöhnlich, genial, begabt, verrückt, voller Ideen, ein Könner, ein Einzelgänger, ein Individualist, ein Außenseiter, schräg, würde ihm meine Buchhaltung nicht anvertrauen etc.?

      Die wohl früheste Beschreibung von Künstlern findet sich im 2. Buch Moses im Alten Testament der Bibel. Verfasst im 5. Jahrhundert v. Chr. nimmt das Zeugnis Bezug auf die Erbauung der Stiftshütte, des transportablen Heiligtums der Israeliten.

      Hintergrund zum Thema: Die Geschichte berichtet, wie Gott die beiden Künstler Bezalel und Oholiab mit den Arbeiten für das Heiligtum betraut. Dabei geht es um mehr als um die Erteilung eines Auftrages an zwei Begabte. Es ist von göttlicher Inspiration der beiden Beauftragten die Rede, die sich nicht nur auf die auszuführende Arbeit, sondern auch auf die Anleitung weiterer Helfer erstreckt. Von Bezalel wird gesagt, Gott habe ihn mit seinem Geist erfüllt, ihm Können und Umsicht gegeben und ihn zu jeder künstlerischen Tätigkeit befähigt. So könne er Bilder und Gegenstände entwerfen (Idee) und sie in Gold, Silber oder Bronze ausführen, Edelsteine schneiden und fassen und Holz kunstvoll bearbeiten (Fertigkeit), und er sei auch in der Lage, andere zu solchen Arbeiten anzuleiten (Vermittlung). Welche Bedeutung dieser künstlerischen Tätigkeit zukommt, zeigt sich in der umfangreichen Beschreibung, die fünf Kapitel (von vierzig) des ganzen Buches einnimmt. Immer wieder werden dabei die Namen der Künstler genannt und ihr Werk – das im eigentlichen Sinne ein Gesamtkunstwerk ist – bis ins Detail beschrieben. Die Geschichte endet mit dem Segen Mose – also einer Einweihung, in deren Verlauf die Künstler aber nicht mehr genannt werden.8

      Bereits in diesem frühen Text werden gewisse Voraussetzungen des Künstlerseins genannt. So etwa die Aufteilung künstlerischer Tätigkeit in die drei wichtigen Bereiche, Planung/​Idee, Ausführung/​Fertigkeit und Anweisung/​Vermittlung an Dritte. Unabdingbare Grundvoraussetzung für dieses Tun aber ist hier die göttliche Inspiration. Erst durch sie wurden Bezalel und Oholiab zur Ausführung des Auftrages befähigt. Nach Abschluss der Arbeiten verliert die Geschichte dann jegliches Interesse an den Künstlern. Bei der Einweihung des Kunstwerks sind bereits andere „Fachkräfte“ am Werk, während der Kult alleine der Verherrlichung Gottes gilt.

      Erstaunlicherweise pflegte auch die griechische Antike, ausgerechnet jene Epoche also, die wegen ihrer künstlerischen Produktivität jahrhundertelang verehrt und als Maßstab künstlerischen Schaffens betrachtet wurde, einen sehr prosaischen Umgang mit „ihren“ Künstlern. Zwar galten sie als inspirierte Ausführende einer von Gott gegebenen Idee, aber ihnen selbst wurde kaum Ehre zuteil. Im Gegenteil: Der griechische Philosoph Platon (4./​5. Jh. v. Chr.) vergleicht sie mit Banausen, Schiffsbauern und Handwerkern. Der römische Philosoph Seneca (1. Jh. n. Chr.) berichtet: „Die Götterbilder verehrt man, man betet sie an und opfert ihnen, aber die Bildhauer, die sie verfertigt haben, verachtet man.“9 Diesen abwertenden Zeugnissen stehen freilich zahlreiche Anekdoten gegenüber, die von der Meisterschaft gewisser Maler berichten und von ihrer Wertschätzung durch die jeweiligen Herrscher. Eine Geschichte, die von Plinius d. Ä. (1. Jh. n. Chr.) überliefert ist, bringt beide Aspekte des Künstlertums zum Ausdruck, sowohl die Wertschätzung als auch die soziale Kluft, die zwischen Herrscher und Künstler bestand.

      Die Anekdote zum Thema: Als Alexander [der Große] veranlasst hatte, dass eine von ihm ganz besonders geliebte Nebenfrau, Pankaspe, wegen ihrer Schönheit von Apelles gemalt werde, und dabei beobachtete, dass dieser, indem er gehorchte, selbst in Liebe entbrannte, gab er sie ihm zum Geschenk – groß durch seine Selbstbeherrschung und durch diese Tat nicht weniger bedeutend als durch irgendeinen Sieg. Denn er hat sich selbst besiegt und schenkte nicht nur seine Lagergenossin, sondern auch seine Neigung dem Künstler, wobei er sich nicht einmal durch Rücksicht auf seine Geliebte abhalten ließ, die erst einem König angehört hatte und nun einem Maler gehören sollte.10

      Nicht viel besser erging es den Künstlern des Mittelalters. Kunstwerke entstanden damals meist im Kollektiv einer Werkstatt, einer klösterlichen Schreibstube oder einer Bauhütte, die für eine Kathedrale tätig war. Der Künstler war ein begabter Handwerker oder Mönch, der überwiegend im Auftrag der Kirche arbeitete und weitgehend anonym blieb. Erst gegen Ende des Mittelalters wuchs das Bedürfnis einzelner Ausführender, ihr Werk zu signieren oder sich in Form eines Porträts darin zu verewigen. Zu diesen frühesten signierten Kunstwerken, die uns überliefert sind, zählt der Klosterneuburger Altar des Nikolaus von Verdun.

      Abb. 5: Nikolaus von Verdun Samson kämpft mit dem Löwen 1181, Email und Goldschmiedearbeit (eine der 51 Bildplatten des Verduner Altars im Stift Klosterneuburg bei Wien)

      Hintergrund zum Bild: Der unter dem Namen Nikolaus von Verdun bekannte Goldschmied und Emailkünstler schuf 1181 51 Emailbilder, in denen er Darstellungen des Alten Testaments solchen aus dem Neuen gegenüberstellte. Signiert ist das Werk mit den lateinischen Worten QVOD NICOLAVS OPVS VIRDVNENSIS FABRICAVIT (was Nikolaus von Verdun herstellte).

      Erst in der Renaissance erfuhr die Stellung des Künstlers eine grundlegende Änderung. Leonardo da Vinci war Maler, Bildhauer, Architekt, Kunsttheoretiker, Anatom, Ingenieur und Erfinder; Albrecht Dürer Maler, Grafiker, Mathematiker und Kunsttheoretiker. Beide waren also Maler und Wissenschafter und verbanden ihr „Handwerk“ mit theoretischen Erkenntnissen. Sie betrachteten die Malerei nicht mehr als handwerkliche Fertigkeit, sondern betrieben sie als Wissenschaft. Dadurch gewannen sie und ihre Kunst nicht nur ein neues Selbstverständnis, sondern auch an gesellschaftlichem Ansehen.

      Schon eine Generation später kennzeichnete den Maler, Bildhauer und Architekten Michelangelo Buonarroti (1475 – 1564) eine ganz andere Persönlichkeit. Mit seinem ausgeprägten Willen und seiner schöpferischen Kraft, seiner technischen Meisterschaft und dem eigenwilligen Temperament verkörperte er den Künstler-„Typ“ schlechthin. Er war, was man postum auch gerne als Genie bezeichnet, ein Exzentriker im Sinne eines das Normale überragenden Individuums. Als solches schwankte er zwischen Melancholie und Inspiration, Leiden und Schöpferkraft, als einer, der sein Leben ganz der Kunst und die Kunst Gott widmete.

      Abb. 6: Michelangelo Buonarroti Die Erschaffung Adams (Detail aus dem Deckenfresko), 1508 – 1512 Vatikan, Sixtinische Kapelle

      Auch der Norden hatte seine überragenden Meister: Allen voran Peter Paul Rubens und Rembrandt van Rijn. Während der eine weltmännisch von sich sagte, er erachte die ganze Welt als seine Heimat11 (in einer Zeit, als man darunter noch vorwiegend Europa verstand), und nicht nur sein malerisches, sondern auch sein diplomatisches Können in den Dienst der spanischen Krone stellte12, fühlte sich der andere zeitlebens den Armen und Ausgestoßenen verbunden. Während der eine seine Doppelrolle geschäftstüchtig auszunutzen verstand, sah sich der andere am Lebensende mit dem finanziellen Ruin konfrontiert. Während die Kunst von Rubens durch Licht und Farbe besticht, zeichnet sich die Malerei Rembrandts durch dramatisches Hell und Dunkel aus. Eines aber hatten die beiden gemeinsam: In ihren Ateliers gaben sie ihr Wissen an viele Schüler weiter, denn die Lehrtätigkeit war ein wichtiger Bestandteil ihres Künstlerberufes. Diese wurde allerdings erst im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts mit der Gründung von Kunstschulen und Akademien zu einem lukrativen und prestigeträchtigen Amt.

      Ab dem 18. Jahrhundert schlüpfte der Künstler vermehrt in eine neue Rolle. Maler wie