Die beiden Studentinnen schauten ihren jungen Reiseführer fragend an.
„Was hast du gemacht?“, fragte Annegrit, eine hübsche Blondine aus Niederbayern, die in München Psychologie oder etwas Ähnliches studierte. Meinrads Blick strich über ihren Hals und er malte sich aus, ihr einen Knutschfleck auf die Haut ihres linken Nackenmuskels zu machen.
„Eine Kohlepartie? Kennst du nicht? Na klar, du bist ja neu. Pass auf, das geht so. Man steigt in der Nacht über den Zaun und klettert auf einen Kohleberg. Und dann geht’s voll runter, runterlaufen, springen, Purzelbäume schlagen. Man braucht natürlich feste Schuhe und am besten eine Lederjacke. Voll geil. Du löst dabei laufend kleine Lawinen aus, die lose aufgehäufte Kohle verstreut sich weit und breit. Ist zwar staubig und man kriegt eine Kohlelunge, macht aber Spaß. Am nächsten Tag haben die Arbeiter dann den Schlamassel, weil bei einer echten Kohlepartie schon mal die eine oder andere Tonne Kohle abrutschen und dann in der Gegend herumliegen kann. Aber das geht jetzt nicht mehr. Drei Mal haben wir es gemacht, da war pausenlos die Polizei bei uns in der Siedlung, die Alten haben nur Probleme gemacht, und so. Wie ihr seht, haben sie jetzt rund um das Kraftwerk zweifachen, sieben Meter hohen Drahtzaun gezogen, Stacheldraht obenauf und Stromfallen. Außerdem gibt es jetzt drei Dutzend Videokameras, Selbstschussautomaten und einen Maschinengewehrstand.“
Die beiden Studentinnen starrten Meinrad erschrocken an. Er erwiderte für einen Moment ihren Blick, ernst und sich der Gefährlichkeit ihrer Arbeit hier voll bewusst, dann lachte er lauthals und umarmte die beiden jungen Frauen. Sie fühlten sich gut an, schlank, gut gebaut und von ihrer Mission überzeugt.
„Nein, entschuldigt, das mit den Selbstschussautomaten und dem Maschinengewehr war geflunkert, das wäre ja gar nicht möglich. Wir leben ja in einem Rechtsstaat. Ein paar Leute von Dürnfeld würden uns am liebsten massakrieren, aber die Direktion des Kraftwerks verhält sich eigentlich anständig. Am Anfang gab es da massive Probleme mit Schlägertrupps, einmal haben sie sogar in der Jurtensiedlung Feuer gelegt und so Scheiß, aber seit der neue Direktor im Amt ist, hat das aufgehört. Seit einem Jahr gibt’s eigentlich kaum mehr Zusammenstöße, wir machen unseren gewaltfreien Protest gegen den Klimawandel und sie verheizen weiter in aller Ruhe die polnische Steinkohle. Und wenn sich ein paar Heißsporne auf die Schienen ketten, um die Züge aufzuhalten, kommen die Arbeiter mit einer Kiste Bier und Grillwürsten, schneiden die Leute von den Schienen und tragen sie von den Gleisen fort. Dann wird gemeinsam gegrillt und getrunken und ein paar hundert Tonnen Kohle fahren ins Areal. Der Direktor hat für seine Strategie der Deeskalation vom Minister und vom Landeshauptmann volle Anerkennung gekriegt.“
„Ja, aber sie verbrennen trotzdem die Kohle und blasen nach wie vor CO2 in gigantischen Mengen in die Atmosphäre. Da muss doch was getan werden! Das können wir doch nicht zulassen! Die Eisbären in Grönland sterben und ihr esst Grillwürstchen! Wir müssen etwas unternehmen!“
Meinrad musterte Annegrit eingehend. Dreiundzwanzigjährige Studentinnen, die mit vollem Eifer und aus tiefster Überzeugung die Eisbären Grönlands retten wollten, hatten etwas ausnehmend Anziehendes. Wahnsinnig sexy. Wie lange würde er brauchen, um mit ihr im Gebüsch zu verschwinden? Ein noch fernes Donnergrollen war zu hören, die dunkle Wolkenbank schob sich von einem auffrischenden Westwind vorangetrieben auf sie zu.
„Meine Mutter ist Mathematikerin“, sagte Meinrad nach einer ganzen Weile bedeutungsvollen Schweigens. „Sie hat ausgerechnet, dass ich in den letzten zehn Jahren, durch die Art, wie ich lebe, so viel CO2 -Äquivalente verbraucht habe, wie jemand, der einmal mit dem Auto von München nach Wien fährt. Bist du schon mal mit dem Auto von München nach Wien gefahren?“
Annegrit schaute Meinrad entgeistert an. Also war sie schon mal mit dem Auto von München nach Wien gefahren. Den Vergleich hatte Meinrad natürlich frei erfunden, mit solchen kleinen Erfindungen gelang es ihm immer wieder wunderbar, die Selbstsicherheit sich für klüger, erfahrener und wichtiger haltender Menschen gezielt zu unterlaufen. Meinrad schaute kurz in den Himmel. In etwa einer halben Stunde würden die Wolken brechen und für einen schönen Regenguss sorgen. Er schmunzelte vor sich hin.
„Und wenn du etwas unternehmen willst, dann bleib hier am Zaun als sichtbares Mahnmal gegen die Umweltzerstörung stehen. In drei Stunden komme ich wieder und bringe euch zum Abendessen in die Siedlung.“
Meinrad zwinkerte den beiden jungen Frauen zu und stapfte davon. Seine Mutter hatte schon vor drei Jahren gesagt, er wäre frühreif, und zum Glück hatte er die kräftige Konstitution seines Vaters geerbt. Das Leben konnte ein Vergnügen sein, vor allem wenn man verstand, sich einen Jux zu machen.
Das Donnern verdichtete sich. Vielleicht würde es nicht mal eine halbe Stunde dauern. Meinrad beschleunigte seinen Schritt.
7
Wenn die Müdigkeit das Einzige ist, was einen wach hält, wird jedes Gespräch zu einer Tortur, wird jede gesellschaftskonforme Höflichkeit zu einer Höllenqual, wird jedes zwischenmenschliche Wort zu einem Peitschenschlag auf den nackten Rücken.
„ … muss ich wirklich sagen, dass wir durch die klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen im Projektmanagement eine sehr solide Basis für die Meilensteine der Abwicklung gefunden haben. Also, ich bin zuversichtlich, dass der Verlauf eine positive Richtung nimmt. Und was unsere Software leistet, habe ich Ihnen demonstriert, Ihre Workflows werden damit effizient unterstützt, so dass …“
Worthülsen, die aus irgendeinem Repertoire gezogen und in beliebiger Form repliziert wurden. In einer Verfassung wie seiner war es gleichsam die einzige Überlebensmöglichkeit auf solche Repertoires zurückgreifen zu können. Robert Wieser hatte keine Ahnung, wie lange sich die Abschiedsprozedur nun schon hinzog. Am Nachmittag war die Gesprächsrunde geschrumpft, der Direktor und sein Stellvertreter hatten sich nach einer Stunde, wie sie formuliert hatten, aus dem Meeting ausgeklinkt, und Robert war mit dem Supplymanager und dessen Mitarbeiter im Konferenzraum verblieben, um die letzten offenen Punkte zu besprechen.
Die drei Männer in Anzügen standen beieinander, sie hatten ihre Unterlagen schon eingepackt, hielten ihre Taschen reisebereit in den Händen, wollten alle schon den kurzen Feierabend antreten und kauten doch noch immer Themen durch, die an diesem langen Arbeitstag schon mehrfach abgehandelt worden waren. Erst als der Supplymanager des Kohlekraftwerks Dürnfeld unmissverständlich auf seine Uhr blickte, war das Signal zum Aufbruch gegeben. Robert räusperte sich, seine Stimmbänder waren von der endlosen Diskussion angegriffen, und er reichte dem Mann die Hand.
„Also, auf Wiedersehen, Herr …“
Panik flammte auf. Da war er von neun Uhr morgens bis halb sechs Uhr abends mit dem Mann beisammen gesessen und hatte geredet und geredet, und jetzt war ihm der Name plötzlich entfallen. Robert versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
„ … Herr Magister.“
„Auf Wiedersehen, Herr Ingenieur.“
Robert reichte auch dem erschöpft wirkenden Mitarbeiter des Supplymanagers die Hand. Die drei Männer verließen den Konferenzraum, die beiden Mitarbeiter des Kraftwerkes begleiteten Robert bis vor die Tür auf den Parkplatz. Robert schnappte nach Luft. Es war angenehm warm, aber die Luftfeuchtigkeit war außerordentlich hoch. Wasserpfützen standen auf dem Parkplatz.
„Na, Gott sei Dank hat der Regen wieder aufgehört“, sagte Magister Reicher.
Robert war irritiert. Hatte es geregnet? Er wusste es nicht, er hatte es gar nicht bemerkt, er war viel zu sehr beschäftigt gewesen, seine Vitalfunktionen mit Routine und Verbissenheit aufrecht zu erhalten.
„Bei dem Regenguss werden unsere Ökofuzzis ganz schön geduscht worden sein“, witzelte Reicher, woraufhin sein Mitarbeiter ein bemühtes und doch irgendwie schadenfreudiges Lächeln aufsetzte.
Robert verstand gar nichts. Hatte