CHANCEN
Alles schien wie immer, und nur wenige Wissenschaftler und Spezialisten schrieben in internen Berichten von einigen rätselhaften Beobachtungen. In Nordamerika hatte bei Gewittern die Anzahl der Blitze stark zugenommen und in manchen afrikanischen Küstenstädten standen plötzlich überall riesengroße schmutzige Pfützen in den Straßen. In Bolivien war Anfang des Jahres 2016 der zweitgrößte See des Landes, der Lago Poopó, merkwürdigerweise ausgetrocknet. Monatelang herrschte akute Wasserknappheit in vielen großen Städten des Landes. Aber sonst ging alles seinen Gang.
Bei uns Zuhause spürte man davon offenbar nichts. Wie die meisten Menschen in Europa machten sich meine Eltern über solche Dinge keine Gedanken. Beide waren verbeamtet, hatten ein Niedrig-Energie-Haus gebaut, trennten gewissenhaft und ordentlich den Hausmüll und brauchten die Zukunft nicht fürchten. So sah die Welt aus, als ich laufen lernte und die Windeln hinter mir ließ. In meinen frühesten Kindheitserinnerungen sehe ich mich noch inmitten einer unübersichtlichen Menge Steckbausteine knien, mit denen ich höchst interessante Konstruktionen erschuf. Papa thronte in einiger Entfernung mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sessel der Couchgarnitur und las Zeitung, Mama hörte ich aus Richtung des in der offenen Küche platzierten und wegen seiner Lautstärke durchaus furchteinflößenden Kaffeeautomaten über die auf allen Kanälen ins Unendliche anwachsende Werbung schimpfen. Man hat wohl in dieser Zeit, in der Informationsüberschuss chic und zur Mode geworden war, die Welt mit Unwichtigem geflutet, um wichtiges - wo gewollt - gezielt untergehen lassen zu können. So war es offenbar auch Opa ergangen. Er hatte eine Berechnung angestellt, die die wichtigsten Faktoren berücksichtigte. Auf diese Art und Weise war er trotz der positiven Annahme, dass im Jahr 2100 mehr als die Hälfte aller Primärenergie aus CO2-neutralen Quellen stammen werde, zu einem wahrscheinlichen Temperaturanstieg von mehr als sieben Grad im Verhältnis zum Anfang des Jahrhunderts gekommen. Aber seine Botschaft hatte niemanden interessiert.
Ich wurde zu einer Zeit eingeschult, in der nach Öffnung der türkischen Grenze Richtung Balkan die zweite größere Flüchtlingswelle Mitteleuropa erreichte. Uns Erstklässler betraf dies aber nur dadurch, dass eines Tages mehrere, eher fremdartig aussehende und aus dunklen Augen ängstlich um sich schauende Neulinge, einige Jungen und mehrere Mädchen die Klassengruppe verstärkten. Aber es machte Spaß, mit ihnen zu spielen und zu toben – nur sprechen wollten die mit uns nicht so viel. Erst als die Lehrerin allen erklärte, dass die Neuen einfach unsere Sprache nicht kannten, haben wir verstanden, warum die untereinander immer so ein komisches Kauderwelsch redeten. Erst viele Monate später, als sie schon ein bisschen Deutsch konnten, haben sie uns erklärt, dass sie aus einem Land kämen, wo Flugzeuge alle Häuser kaputt gebombt und fremde Männer mit schwarzen Tüchern um den Kopf und schwarzen Fahnen ihren Müttern, Vätern oder den Geschwistern die Köpfe abgeschnitten hätten. Ungläubig lachten wir, dann weinten ein paar von ihnen und andere fingen an, sich wütend mit uns zu prügeln. Nachdem die Klassenlehrerin, eine kleine zierliche, aber energische Frau, das mitbekam, zeigte sie uns im Unterricht ausgewählte Fotos von schier endlosen Trümmerlandschaften und erklärte: Das waren einmal bunte Städte, in denen Kinder wie ihr gespielt und gelernt haben. Die Väter und Mütter sind jetzt tot. Vielleicht erschien ihr selbst das im Nachhinein zu hart, aber diese Konfrontation erzeugte Gefühle. Und sie lehrte uns, dass es außerhalb der für uns so friedlichen und glücklichen Erlebniswelt noch viele andere Regionen auf der Erde gab, in denen statt dessen Krieg, Hunger, Armut, Not und Krankheit zu den Selbstverständlichkeiten zählten. So standen uns Hiesigen die Tränen in den Augen und wir lernten, dass wir den Neulingen Respekt entgegenzubringen hatten und ihnen würden helfen müssen. Das wollten wir dann auch wirklich und so wuchs langsam etwas Vertrauen zwischen uns. Sie erzählten mehr von ihrer ehemaligen Heimat und davon, wie Kämpfer aus verschiedenen anderen Ländern sich dort gegenseitig ermordet haben. Aber obwohl sich die Lehrerin Mühe gab, einiges auf kindgerechte Art verständlich zu erläutern, wollten wir von Krieg nichts wissen. Natürlich nicht. Krieg passt nicht in die Köpfe von Kindern. Nur in die von skrupellosen Erwachsenen. Und so drehte sich unsere Welt einfach weiter. Wir lernten neue Zahlen und Buchstaben, ohne etwas von den Ereignissen zu ahnen, die sich in fernen Teilen der Welt anbahnten.
Auch ein Jahr danach bekam ich als wohlbehütet aufwachsendes Kind von diesen politischen Geschehnissen nicht viel mit. Erst viel später als Jugendlicher hat mir Vater mal erzählt, dass das Eingeständnis von 2020 eine Zäsur von Weltbedeutung gewesen sein musste: Damals hatte die UN zugeben müssen, dass hinsichtlich der Senkung der CO2-Emissionen bis dato nichts, aber auch gar nichts erreicht worden war. Alle Bemühungen, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen, zunehmend auf Kohlekraftwerke zu verzichten, insgesamt weniger Energie zu verbrauchen, hatten die jährlichen Emissionsmengen an Kohlendioxid nicht reduzieren können. Die internationale Zusammenarbeit an diesem Thema ließ daraufhin nach, viele Staaten zogen nun mehr und mehr nationale Alleingänge vor. An meiner Schule zuckten die Lehrer nur ratlos mit den Schultern, wenn sie sich darüber unterhielten. Für viele Menschen mit erhalten gebliebenem gesellschaftlichem Gewissen und Problembewusstsein war das ein Schock. Alles vergebens? Wirklich alles umsonst? Selbst unter Umweltaktivisten breitete sich Resignation aus. Die virtuelle Gemeinde der an Nachhaltigkeit und Ökologie Interessierten zerfiel. Kernkraftgegner mutierten zu Kernkraftbefürwortern, andere gaben auf oder wandten sich in spirituellem Frohlocken der neu entstandenen Sekte der „Lichtmenschen“ zu. Aber all das spielte für einen Zweitklässler keine Rolle. Ich interessierte mich vielmehr für Papas neuen Globus. Eine riesengroße Kugel, die wunderschön leuchten konnte, war mit feinsten Linien und Buchstaben bemalt. Ich wusste schon, dass sie unsere Erde darstellt mit all den fernen Ländern, Meeren und Gebirgen. Sie drehte sich in einem Halbkreis, der auf dem wuchtigen Sockel komischerweise etwas schräg befestigt war. In einem Display konnte man Namen von Flüssen oder Städten eingeben und dann leuchtete die jeweils richtige Stelle. Papa nahm sich viel Zeit, mir auf dem Globus Länder, Gebirge und Flüsse zu zeigen. Da gab es unseren Heimat-Kontinent Europa. Fast auf der anderen Seite lag Nordamerika mit den USA, die mit den übrigen Ländern nichts mehr zu tun haben wollten. Noch eine halbe Umdrehung weiter umfuhr Papa mit dem Zeigefinger eine große Fläche. Das war Russland, das in der Raumfahrt und im Cyberwar unbedingt die Macht haben wollte. Darunter zeigte er mir, wo die großen chinesischen Ballungsgebiete liegen, in denen jährlich Millionen Menschen nur an den Folgen der Luftverschmutzung starben. Anschließend drehte Papa die Kugel wieder etwas zurück und legt den Finger auf den Mittleren Osten. Hier bekriegten sich immer noch die Länder Iran und Saudi-Arabien. Ohne mit meinen knapp acht Jahren viel davon zu verstehen, erzählte Papa noch, dass Russland sich in der Zwischenzeit aus dem Konflikt in Syrien zurückgezogen hat. Das bewog im Frühjahr 2022 die USA, in einer Blitz-Intervention große Teile des ehemaligen Syriens zu besetzen und diesen Staat kurzerhand zu einem amerikanischen Protektorat zu erklären. Kurz nach dessen Ausrufung wurden die USA von den schlimmsten Busch- und Waldbränden der jüngeren Geschichte heimgesucht. Zwölftausend Quadratkilometer südkalifornischer Fläche standen rund um Los Angeles in Flammen. Die Behörden sahen sich veranlasst, zehn Prozent des Stadtgebietes zu evakuieren. Für zirka dreihundertachtzigtausend Menschen mussten in entfernten Gebieten Notunterkünfte gebaut, die dazugehörigen Versorgungsverbindungen etabliert sowie die Umsiedlungsmaßnahmen