Syriens Landkarte ist nicht bloß eine geografische Karte. Sie steht auch für die Geschichte des syrischen Volks. In meiner täglichen Arbeit vor Ort mit Binnenflüchtlingen, die wegen des Kriegs zwar ihre Häuser, nicht aber das Land verlassen haben, darf ich diese Menschen auf einem Wegstück ihrer Geschichte begleiten. Wir befinden uns zweifellos in einem dunklen Kapitel, und wollte man die Karte des heutigen Syriens farblich darstellen, so müsste man sie rot färben: im Rot des Blutes, das durch diesen schrecklichen Krieg vergossen wird. Aber inmitten der Dunkelheit gibt es auch Licht. Von genau diesem Licht handelt dieses Buch. Es legt Zeugnis ab von der Hoffnung, dass unser geliebtes Syrien nicht untergehen wird.
Als Christen sind wir tief in der syrischen Erde verwurzelt. Der Nahe Osten ist nicht nur die Wiege der menschlichen Zivilisation, er ist auch die Wiege des Christentums, dessen Geschichte hier vor über 2000 Jahren begann. Hier wurden die Jünger Jesu das erste Mal als „Christen“ bezeichnet, und die heutigen Christen der Region werden ihre angestammte Heimat nicht leichtfertig aufgeben. So treffe ich in meiner Arbeit immer wieder auf Menschen, deren Lebenswille und unerschütterliches Gottvertrauen mich tief berühren. Von diesen Menschen möchte ich Ihnen erzählen – ohne politische Umschweife und Analysen, sondern direkt von Herz zu Herz.
Als im Frühling 2011 der Krieg ausbrach, waren Tausende Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Die meisten von ihnen flohen an die syrische Mittelmeerküste. Ich teile diese Erfahrung der Flucht mit ihnen, denn auch ich gehörte zu den Vertriebenen. Nach über 25 Jahren des Lebens und Wirkens in der Stadt Homs war ich gezwungen, 2012 meinen dortigen Konvent zu verlassen und in die Region Tartus zu fliehen. Hier konzentriere ich mich seither auf die Westküste und das Wadi al-Nasara, das „Tal der Christen“ zwischen Homs und Tartus. Ich kümmere mich um Binnenflüchtlinge aller Religionen, die in diesem vom Krieg größtenteils verschonten Gebiet nach Schutz und einer neuen Perspektive suchen. Gleich zu Beginn der Krise fingen wir in der Kongregation der Schwestern der heiligen Herzen von Jesus und Maria an, die Binnenflüchtlinge auf seelsorgerischer und materieller Ebene zu unterstützen. Bei uns finden die Menschen ein offenes Ohr für ihre Anliegen, werden in der Verarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse begleitet und mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten versorgt.
Schnell wurde uns klar, dass die Kinder der vertriebenen Familien besondere Unterstützung brauchen. Die Erfahrung des Krieges hat tiefe Spuren in ihren verletzlichen Seelen hinterlassen. Mit der wertvollen Hilfe einer Gruppe jugendlicher Freiwilliger starteten wir ein Programm, das Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 15 Jahren Schulbildung, psychologische Betreuung und ein sinnvolles Freizeitangebot ermöglicht. Es wird getanzt und gebastelt, wir feiern Feste, spielen Theater, und die älteren Kinder besuchen Kurse in gewaltfreier Kommunikation. Inzwischen betreuen wir in diesem Programm über 300 Kinder, nicht zuletzt dank der finanziellen Unterstützung von Christian Solidarity International. Diese Hilfe kommt der gesamten Familie zugute, weil so auch die Eltern Halt finden können in einer Gemeinschaft von anderen Betroffenen. Vor allem in den Workshops, die wir speziell für Frauen und Mütter anbieten, erlebe ich immer wieder, wie die Teilnehmerinnen neuen Mut schöpfen. Eine 28-jährige Mutter von drei Kindern, die ich bei einer unserer Veranstaltungen kennenlernte, hat es so ausgedrückt: „Wenn die Welt für uns hier zu klein wird, dann haben wir immer noch den Himmel – wir werden nicht verzweifeln.“ Diese unerschütterliche Hoffnung und das hartnäckige Festhalten an einer besseren Zukunft stehen in starkem Gegensatz zu dem Leid, das die an Körper und Seele verletzten Menschen durchstehen mussten.
Syrien war schon immer ein Land der Gegensätze, auch rein landschaftlich gesehen. Dem Flachland im Osten steht das Gebirge im Westen gegenüber. Die Wüste gehört ebenso zum Landschaftsbild wie die Küstenregion am Mittelmeer. Und weltberühmte Städte wie Damaskus, Aleppo und Homs existieren neben kleinen, unscheinbaren Dörfern, die es selten in die internationale Medienberichterstattung schaffen. Inmitten dieser Gegensätze wurde ich 1951 geboren, im christlichen Dorf Maalula, rund 60 Kilometer nordöstlich von Damaskus. In Maalula werden die Häuser direkt in die Felswände des Qalamun-Gebirges hineingebaut, so dass auf den ersten Blick klarwird: Der Mensch ist hier eins mit der Natur, die ihn umgibt. Aber nicht nur die Natur, sondern auch die christliche Geschichte gehört hier untrennbar zu den Menschen. Denn in Maalula spricht man noch immer Aramäisch, die Sprache von Jesus Christus. Schon früh durfte ich also Gottes frohe Botschaft kennenlernen.
Meine allererste Schule wurde von Schwestern der Kongregation geleitet, der ich heute angehöre. Am meisten beeindruckte mich die Hingabe, mit der sich diese Schwestern für uns Dorfbewohner einsetzten. Immer wieder gaben sie schon uns Kindern Aufgaben, die dem Gemeinwohl dienten, seien es Besuche bei Kranken oder Hilfestellungen für Familien mit vielen Kindern. Ich spürte, dass ich in diesen Aufgaben aufging, und fühlte mich je länger, desto stärker zu diesem Leben im Dienst Gottes und der Menschen hingezogen. Eines Tages, als ich 13 Jahre alt war, behielt mich die Oberin nach dem Unterricht zurück und sagte mir, dass ich meine schöne Stimme doch dazu einsetzen solle, zum Lob Gottes zu singen. In diesem Moment war mir klar: Ich möchte selbst eine Schwester werden und mein Leben ganz in den Dienst des Herrn stellen. Meine Eltern unterstützten mich von Anfang an in diesem Vorhaben und schickten mich auf eine Schule im Libanon, in der ich viel über das Leben in der Schwesternschaft lernte und mit meiner theologischen Ausbildung beginnen konnte.
Als ich 1979 – mit 28 Jahren – nach Syrien zurückkehrte, begann ich meine Arbeit in der Kongregation als Französischlehrerin in Homs, während ich an der Universität von Damaskus Philosophie studierte. Nach einem vorübergehenden Umzug nach Aleppo und einem zweijährigen Studienaufenthalt in Frankreich kehrte ich 1984 endgültig nach Homs zurück. Ich leitete Jugendgruppen, lehrte den Katechismus und beteiligte mich generell am geistlichen Leben unserer Gemeinschaft. Diese Tätigkeiten führte ich aus bis 2011, als der Bürgerkrieg ausbrach. Was danach geschah, wissen Sie bereits.
Die Liebe zu Gott und den Menschen, die ich so früh entdecken durfte, ist bis heute die stärkste Triebfeder meines Handelns. Bei all dem Leid, das ich täglich sehe, wünsche ich mir oft, dass ich noch mehr für die Menschen in meinem geliebten Syrien tun könnte. Zumindest aber bin ich fest dazu entschlossen, das Wenige, das ich tun kann, bis zum Ende durchzuführen. Gott hat mir und meinen Schwestern die Aufgabe gegeben, die Menschen in ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu unterstützen – ihnen beizustehen, ein offenes Ohr und Hilfe anzubieten, sie spüren zu lassen, dass sie noch immer geliebt sind. Indem wir täglich unseren Glauben an Jesus Christus leben, zeigen wir, dass die Liebe größer ist als der Hass. Die Kirche des Nahen Ostens bleibt eine Kirche der Hoffnung.
Doch der Friede, auf den wir so inständig und mit aller Kraft hoffen, ist kein „naiver“ Friede, der so tut, als könnte alles auf einen Schlag wieder gut werden. Zu viel Leid und Schmerz haben die Frauen, Männer und Kinder Syriens dafür bereits erfahren müssen. Der Friede in Syrien wird nicht als Taube mit einem Olivenzweig im Schnabel angeflogen kommen. Unser Vogel ist nämlich bereits da: Der Vogel ist unsere Hoffnung. Es ist eine Hoffnung, die so hartnäckig und widerspenstig ist, dass, solange wir sie nicht aufgeben, eine bessere Zukunft in Syrien möglich bleibt. Unsere Hoffnung zeigt sich als ein Vogel, der auf einem toten Ast sitzt und singt. Wir sind erschöpft von diesem Krieg, der nicht aufhören will. Aber wir bringen unseren Kindern das Singen bei, damit sie lernen, den Schmerz zu bezwingen.
Die neunjährige Nadja zum Beispiel kam als sehr verschlossenes Kind in mein Programm. Sie liebte es, Blumen zu pflanzen, und deshalb pflanzten wir immer viel zusammen an. Einmal, als wir gerade mit dem Anpflanzen fertig waren, öffnete sie sich mir gegenüber plötzlich und sagte: „Schwester, ich habe keine Angst mehr vor dem Sterben. Wenn ich sterbe, werde ich in dieser Erde, die ich liebe, begraben werden: in Syrien. Ich werde dann selbst zu einer Blume werden.“ Es sind Beispiele wie dieses, die Zeugnis ablegen von der Verbundenheit des syrischen Volks mit seinem Land und von unserer unbezwingbaren Hoffnung auf eine bessere Zukunft, an der wir mit Gottes Hilfe festhalten. Die Geschichten, die ich Ihnen erzählen werde, machen so vor allem eines deutlich: Was auch noch kommen mag, egal, wie groß die Prüfung ist, die uns auferlegt wird – wir singen weiter.
Schwester Marie-Rose