Tränen brannten in seinen Augen.
Ohne Laterne, dafür war ihm der Hund nachgefolgt, löste Paul das Boot vom Steg und paddelte in die Nacht hinaus. Nie wieder wollte er umkehren, nie mehr.
Beidseits des Kanals wuchsen Feuerbeeren, hier und dort, winzige Leuchtmarken, und so konnte er Kurs halten, obwohl das Wasser tiefschwarz war. Die feuchte Luft ließ ihn schwer atmen, weil die Häuser näherrückten: ein Grabgeruch zwischen den engen hohen Wänden – die Erdgeschosse überflutet, Möbel und Teppiche verfault, die Tapeten verschimmelt; loses Geschirr am Grund verstreut. Auf Augenhöhe sah Paul einen Kronleuchter hängen; und da war ein Porträt, von eisblauem Moos befleckt: ein Geistergesicht; und es gruselte ihn so sehr, dass er schneller paddelte.
In der Stille hörte er Wasser tröpfeln.
Je weiter er in die Schatten vordrang, desto dunkler wurde es ringsum; noch glühten ein paar Beeren, aber dann wurden die Ufer schwarz, als hätte ein Gas alles Licht erstickt.
Paul hustete.
Er machte Rückwärtsschläge, um das Boot zu bremsen. »Runter mit dir, du Faulpelz«, sagte er zu Ludwig, der auf der Munitionskiste döste; und der Hund trollte sich, kletterte unter das Dollbord, wo er sich schnaufend hinlegte. Eins der Wolfsaugen glänzte, verschwand.
Von oben drang noch ein Schimmern durch die Asche, ein kleiner, glühender Riss – plötzlich verblasst wie ein Glühdraht ohne Strom, und Paul sah die Hand vor Augen nicht mehr, als er die Kiste öffnete und ihren Inhalt durchwühlte: Verbandszeug. Eine Schere. Ein Lappen. Draht. Eine Leuchtpistole. Und die Phosphorstäbe, nach denen er gesucht hatte.
Es war stockfinster geworden.
Vorsichtig nahm er eins der Glasröhrchen heraus, knickte die Plombe ab und wartete, bis die chemische Reaktion begann: Lautlos ging der Phosphor in Flammen auf. Paul zählte bis drei, ehe er den Stab im hohen Bogen zum Ufer warf. Ein Klirren, ein Splittern. Worauf Feuerschein auf den Fassaden tanzte.
Am Ende der Häuserreihe gabelte sich der Kanal und floss zum Marktplatz, dahinter lagen die Katakomben, der Echosee – und rechts entlang zum alten Bahnhof, der höher gelegen und trocken war. Da Rhombus ihm aufgetragen hatte, nach Benzin zu suchen, ließ er das Boot auf den dunkleren Seitenarm zudriften. Ob der Alte seine Eltern herholen konnte, überlegte er, aus den Kreisen zwischen den Strichen? Wurde dafür das Lichtwerk gemacht? Funktionierte die Maschine überhaupt? Oder war das alles bloß ein Schwindel?
»Miese Lügner«, zischte er, wieder zornig auf beide. Nein, er würde nicht umkehren, sondern eine eigene Hütte bauen, irgendwo in den tiefsten Schatten. Sie würden ihn nicht finden. Dann konnte er Pilze züchten und nach Konserven suchen; außerdem war Ludwig bei ihm, er hatte also einen Freund.
Doch erst wollte Paul etwas nachprüfen …
Kräftiger zog er das Paddel durch, steuerte das Boot unter Rohren hindurch, die einst zum geschlossenen Wassersystem gehörten, aber längst verrostet und aufgebrochen waren: Aus den Löchern sickerte eine stinkende Brühe.
Der Kanal weiterte sich, bis er mit dem Vorplatz des Bahnhofs verschmolz; alles war meterhoch überflutet – die Hallen und Lokschuppen ringsum umschlossen ein Becken, in dem sich das Treppenportal spiegelte; noch höher die gläsernen Pforten. Das ganze Gebäude erweckte den Eindruck, als wäre es eine Gartenlaube von riesigen Ausmaßen. Innen ein rötliches Licht.
Nochmals warf Paul einen Leuchtstab zum Ufer, der aber nicht weit genug flog, sondern ins Wasser fiel und versank wie ein Stern, hell funkelnd … Kurz tauchte am Grund eine Trambahn auf, die auf ihrem Gleis schlief, unten, in der grünen Tiefe.
Und Schwärze.
Nach einem langen Schlag ließ Paul das Boot ausgleiten und kletterte von Bord. Sein Fuß schmerzte, als er auftrat, der Knöchel war geschwollen. Trotzdem packte er ein Tau, zuerst mit einer, dann mit beiden Händen, zog das Boot unter eine Gaslaterne und band es dort am Pfahl fest. »Ludwig, komm«, sagte er, bevor er die wenigen Stufen hinaufhumpelte.
Hinter sich hörte er Wellen schwappen.
Der Treppe schwankte leicht.
Paul stemmte die Glaspforte auf und ließ zuerst den Hund durch, bevor er selbst den Bahnhof betrat. Wo er auch hinsah, im Gewölbe und auf den Gleisen, wucherten fremdartige Pflanzen, Unkraut, Blumen und Sträucher, die feurige Blüten trugen. Ein herber Geruch sättigte die Luft, und Paul musste niesen, als er den Fahrkartenschalter passierte, danach ein Café, dessen Tische und Stühle noch draußen standen – leere Teller, leere Tassen wie bei einer Puppenstube.
Gespenstisch.
Paul spürte einen Kloß im Hals. Flach atmend blieb er stehen, um einen Baum zu betrachten, der mitten auf dem Bahnsteig wurzelte. Schwere, glutrote Früchte hingen an den Ästen. Seit seinem letzten Besuch hatten sich die Pflanzen stark vermehrt, anscheinend wirkte die Halle wie ein Gewächshaus, obwohl es hier drin weder drückend noch feucht war.
Während Paul vorwärts ging, ließ er den Blick bis zum Abstellgleis schweifen, wo noch ein Güterwaggon allein im Schatten stand: Seine Räder und Puffer wurden von eisblauen Ranken überwachsen – und auch die Fracht war unter Blättern und Zweigen versteckt, als hätte jemand ein Tarnnetz darüber gelegt: Kriegspanzer hatte der Waggon geladen, mit wuchtigen Feuerrohren, die zum Glasdach aufragten.
Schon früher war Paul auf ihnen herumgeklettert, hatte in die seitlichen Kanonen gespäht und versucht, die Einstiegsluken zu öffnen; heute wollte er nicht spielen, sondern das Metall anfassen. Deshalb humpelte er zu einer Trittleiter, stieg den Güterwaggon hinauf, streckte die Hand vor – und da fühlte er das feine, unsichtbare Feld, das über der Armierung schwebte. Wie ein Luftpolster, tatsächlich. Vielleicht stimmte dann auch der Rest: das mit den Zinnsoldaten und der Bombe; und dass seine Eltern noch lebten und —
Ludwig, der eben noch friedlich an einem Rad geschnüffelt hatte, bellte plötzlich laut, winselte und heulte, wobei er ruhelos umher lief.
»Was ist?«, fragte Paul. »Gefahr?«
Und wie zur Antwort wurde der Bahnhof von einem Beben hart getroffen; Gleise und Pflanzen, der Waggon und die Tanks – alles verschwamm vor den Augen.
Der Boden rumorte.
Wankend verließ Paul die Leiter, machte kehrt, als ein zweites, noch stärkeres Beben das Gewölbe vibrieren ließ: ein kristallklarer Ton, gleich einer Opernstimme, die sang, ehe Risse durchs Glas sprangen.
So schnell er nur konnte, hinkte er den Bahnsteig hinab, bog ab, links entlang, die Halle runter; stolperte, vom Beben fast umgeworfen, fiel aber nicht hin. Dann barst das Kuppeldach mit lautem Knall, und Splitter und Scherben prasselten auf die Gleise, messerscharf wie Schrapnellgeschosse – Wolken aus Glas, als sie am Boden zerspritzten und Paul und den Hund zum Café weiter trieben, wo sie Schutz hinter einem Korbsessel fanden.
Ins Getöse mischte sich ein neues Geräusch, ein Zischen, dann pfeifend und schrill, als würde eine Dampflok einfahren, doch war es kein Zug, der in den Bahnhof kroch, sondern ein monströses Ding, amorph und sternenschwarz, einer Schlange ähnlich, die ganze Häuser verschlang. Und was Paul darin sah, ließ ihn erstarren; er stöhnte. Reglos schaute er zu, wie der Schlund sich weit öffnete: ein Tunnel zu einer anderen Welt, an dessen Ende eine fremde Landschaft lag, ein Wald aus Pilzen, die blauen Lamellen so groß wie Zeppeline.
Und ein glühender Himmel.
»Ich träume«, flüsterte Paul, und seine Schultern zitterten.
Wie er nach draußen gelangt war, wusste Paul nicht mehr, nur dass er den Hund getragen hatte – über die Splitter und Scherben hinweg. Jetzt, mit dem Rücken zum Boot, starrte er auf den Bahnhof zurück; das Dach eingedrückt und die Säulen krumm, als wären dort Fliegerbomben gefallen.
Noch schien das Monstrum darin gefangen, aber dann, begleitet von einem mächtigen Krachen, bohrte es sich einen Weg quer durch die Fassade hindurch, inzwischen so groß wie ein Riesenrad, schwarz an den Rändern, wo Blitze zuckten, wenn es ein Hindernis fraß, eine Mauer, ein Fenster; und innen die fremde