Dann war aber meist schon die Aufmerksamkeit für mich erloschen und ich zog mich aus dem Taubenschlag mit seinem Gezwitscher und mir auf die Nerven gehendem Geplapper zurück. Meist setzte ich mich dann in eine Ecke und las. Da unsere Wohnung aber zu klein war, als dass ich mich in eine absolut ruhige Ecke hätte zurückziehen können, hatte ich immer die Störgeräusche, die aus dem Taubenschlag zu mir drangen, zu verkraften. Das passte mir auf gar keinen Fall und ich sprach auch mal mit meinen Eltern darüber. „Mama und Papa, müsst ihr denn immer so viele Leute zu uns bitten und bewirten? Hinterher seid ihr doch immer ganz müde und müsst noch lange aufwaschen und abtrocknen. Außerdem habe ich häufig Schularbeiten zu machen und da stört mich das Gekreische von eurer Gesellschaft. Vor allem die Leni macht dermaßen Hektik und schreit herum, als wenn sie allein wäre. Ich hab schon mitbekommen, dass sie sich mit ihrem Mann nicht gut versteht, frage mich aber, ob sie das so hektisch und lauthals nun allen andern erzählen muss. Wenn sie ihren Mann dann in großer Runde so angeht, wird das gegenseitige Verstehen sicher auch nicht besser!“ Meine Eltern hatten aufmerksam und erstaunt zugehört. „Das sind ja wertvolle Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, Klaus, die wir dir gar nicht zugetraut hätten. Du hast sicher vollkommen Recht, wenn du sagst, dass das Anschreien ihres Mannes kaum Besserung bringt. Das ist auch unsere Meinung und wir sind erfreut über dein umfassendes Denken und dies mit ganzen neun Jahren. Komm her, Klausmann, ich möchte dir ein Küsschen geben.“ Natürlich weiß ich heute, dass meine Eltern und all die anderen die schlimme Zeit und die Entbehrungen der Kriegszeit vergessen wollten und deshalb viel feierten. Sie wollten ganz einfach nachholen und leben. Bei einer dieser Unterhaltungsfehden im Taubenschlag wurde vereinbart, dass die gesamte Truppe am übernächsten Tag zu uns zum Essen kommt. Meine Mutti hatte eine wunderbare Spargelsuppe, wunderbare Steaks vom Fleischer Leistner, Kartoffelmus und grüne Bohnen in Aussicht gestellt. Und die Schäfer, Leni sagte euphorisch: „Ich bringe ein herrliches Dessert mit, Gretel. Ei das wird fein! Hinterher rauchen wir noch von meinen Zigaretten. Ich habe ganz neue und zwar Orient – die sind zwar schweineteuer, schmecken aber wunderbar, einfach schnaffke. Die gibt es erst seit kurzem im Verkauf. Da freust du dich doch vor allen Dingen, Herbert?“ Herbert nickte begeistert. Der vorgesehene Tag war ein Sonnabend, das Essen für abends geplant. Nun rotierten meine Eltern ganz schön, um alles Notwendige zu besorgen, aber auch ich kam nicht ungeschoren davon. Dabei hörte ich das erste Mal, dass sie etwas bedenklich über die große Summe Geldes sprachen, die das gesamte Spektakel verschlingen würde. „Weißt du, Herbert, wir machen wieder einmal eine solche Großveranstaltung, wo sich zum Beispiel der Hugo, der uns noch nie eingeladen hat, wieder nur durchfrisst und den Dreck von seinen Stiefeln, den er seit einer Woche im Wald angesammelt hat, bei uns genüsslich auf dem Teppich verteilt. Außerdem kostet das Ganze immens viel, was wir uns eigentlich gar nicht leisten können.“
„Na ja, meine gute Gretel, du hast schon Recht, aber denke einmal daran, welche Entbehrungen wir in der Kriegszeit hatten und außerdem – wenn ich manchmal an meine Kameraden denke, die dieses Inferno nicht lebend bzw. nicht in voller Gesundheit überstanden haben, werde ich ganz traurig und bedrückt. Wir können ja froh sein, dass ich überhaupt einigermaßen gesund aus diesem fürchterlichen Krieg zurückgekommen bin. Stell dir nur mal vor, ich wäre bei Stalingrad eingesetzt worden. Das Leid dort war unermesslich groß. Von 300.000 deutschen Soldaten wurden 90.000 gefangen genommen und von diesen kamen vor einem halben Jahr nur 9000 zurück.“
„Bei Gott, mein liebes Herbert’l, ich denke genauso wie du. Ich bin so glücklich, dass ich dich wiederhabe und denke einmal an unseren Klausmann – wie wichtig das ist, dass er seinen Vati zurück hat.“ Auf alle Fälle musste ich wieder einmal zum Simonbäcker und zum Fleischer Leistner, was Gott sei Dank ja gleich nebenan war. Inzwischen hatte ich eine große Errungenschaft und zwar ein 28er Fahrrad mit Vollgummibereifung. Mein Vater hatte dieses Rad irgendwoher besorgt – es fehlte aber die Bereifung. Nun kam aber ein Glücksumstand dazu. Vater war ja bekanntlich Einkäufer. Offensichtlich war aber selbst für ihn in der günstigen Situation, an der Quelle zu sitzen, dies in der damaligen Zeit recht schwierig. Eine Gummibereifung mit Schlauch war einfach nicht zu besorgen und Vater war glücklich, mir diese Vollgummilösung präsentieren zu können. Er kam mit dem strahlendsten Lächeln der Welt mit seiner ILO nach Hause und hatte vier Meter von diesem Hartgummi als Ring um Hals und Schultern zu hängen. Wir schnitten das dann auf die exakte Länge, wobei wir unheimliche Probleme mit dem Trennvorgang hatten. Ich erinnere mich noch gut an die vielen fruchtlosen Versuche, wo ich das Gummiding mit den Händen halten musste, dieses aber nicht recht zu Wege brachte, da bei dem versuchten Schnittvorgang immer viel zu viel seitliche Kräfte auftraten, die mir den Gummi aus den Händen rissen. „Klaus, verdammt nochmal, halte doch nun endlich mal den Gummiring fest! Man merkt eben doch, dass du noch ein ziemlich kleiner Junge bist. Dir fehlen halt noch die großen Muskelpakete!“ Angesäuert schaute ich auf Vati. „Verfügst du über die großen Muskeln, Vater?“ Er hielt inne, hob energisch den Kopf und ich sah schon, wie sich die Zornesader anfing zu formen. Nun sah er in mein zartes Kindergesicht, welches deutlich zeigte, dass ich mich sehr angestrengt und bemüht hatte. Ihm wurde sofort klar, dass er falsch lag und dass ich schon alle meine Kraft eingesetzt hatte. Ich bin überzeugt, dass seine enorme Liebe und Anhänglichkeit zu mir sofort das in die Zornesader fließende Blut zurückbeorderte. Er lachte freundlich und lieb zu mir. „Ist schon gut, Kumpel. Hast ja dein Möglichstes getan. Warte ab, wir schaffen das! Ich gehe mal zum Herrn Woitanowsky, der hat doch einen Schraubstock.“ So wurde dann der Protagonist fest in diese eiserne Zwangsjacke eingespannt (ich musste nicht mehr halten) und mit einer Eisensäge exakt zertrennt. Dann mussten die Enden noch mit Eisendraht