Einen Freund ganz anderer Art gewann ich durch meinen Schulwechsel in das Realgymnasium. Eines Tages kam ein neuer Schüler in unsere Klasse, gerade als wieder einmal die Schulferien zu Ende waren, die ich in Auerbach verbracht hatte. In meiner Schultasche befand sich eine Tüte Bonbons, wie ich sie jedes Mal von meiner Großmutter mit auf den Weg nach Altenburg zugesteckt bekam.
Unsere Zirkustruppe in Dungers Garten (Erich Dunger 2. v. rechts, Johannes Dunger 5. v. rechts), Foto um 1937/38
In der Pause bot ich davon, wie üblich, den mir zunächst sitzenden Klassenkameraden an. Da der Neue einen Platz schräg hinter mir besetzt hatte, war auch er unter den Glücklichen, die in meine Tüte langen durften.
Damit war für mich die Angelegenheit eigentlich erledigt. Günter Rottmann, so hieß der Neue, schien aber meine Freigebigkeit so beeindruckt zu haben, dass er sich bei der nächsten Sitzverteilung um den Platz neben mir bewarb, was auch tatsächlich gelang. So wurden wir Banknachbarn und nach und nach gute Freunde für die ganze weitere Dauer unserer gemeinsamen Oberschulzeit. Dieses Ereignis fiel etwa in die Zeit, als sich die Wege von Hans Fedoroff und mir wegen dessen beginnender Berufsausbildung zu trennen begannen. Mit Günter Rottmann spielte ich in der Freizeit die Periode der Trapper- und Indianergeschichten zu Ende. Er kam aus einem mir bis dahin einigermaßen fremden Milieu. Sein Vater arbeitete als Oberingenieur beim Aufbau des Schwelwerkes in Regis. Seine Mutter, eine ehemalige Sängerin, war nicht mehr berufstätig. Die Familie bewohnte in der Leipziger Straße eine für meine damaligen Vorstellungen riesengroße Wohnung. Ich betrat sie mit der seinerzeit üblichen Ehrfurcht von Kindern kleiner Leute, die Zutritt in ein Villengrundstück bekommen. Günter hatte noch zwei jüngere Brüder, mit denen ich wenig zu tun bekam. Er selbst war schon daran gewöhnt mit Erwachsenen Konversation zu machen, konnte höflich und sehr geschickt verhandeln und schrieb seine Aufsätze, ohne viel am Ausdruck zu feilen, sehr flüssig aufs Papier. Das beeindruckte mich ebenso wie die Zuverlässigkeit, mit der er fortan mit mir verbunden war. Bei Herrn Studienrat Löbe, unserem Klassen- und Deutschlehrer hatte er einen besonderen „Stein im Brett“. Sein Redetalent befähigte ihn übrigens sogar dazu, selbst über Themen reden zu können, von denen er nicht viel wusste. Das unterschied uns wesentlich voneinander. Einmal sollten wir irgendein Drama zu Hause lesen und zur Diskussion im Deutschunterricht vorbereiten. Günter kam zur nächsten Deutschstunde völlig unvorbereitet und hatte das Pech, als Erster aufgerufen zu werden. Er schoss aus der Bank hoch und begann ohne Stocken mit allgemeinen Vorbemerkungen, während er mit nervösen Handbewegungen auf meine aufgeschlagene Literaturbroschüre deutete. Indem ich ihm ständig einige Stichworte daraus lieferte, gelang ihm das Husarenstück, ununterbrochen zu reden. Er erhielt die Note „sehr gut“. Wie immer Freundschaften begründet werden mögen, sie haben auch mit gegenseitiger Vorteilsnahme zu tun, was mir recht spät in meinem Leben wirklich klar wurde. Wir halfen uns jedenfalls gegenseitig in schulischen Angelegenheiten so gut das möglich war. Günter war ein großzügiger und fairer Kamerad. Durch den Umgang mit ihm wurde ich erstmals aus den mir vertrauten Verhältnissen meines Wohnumfeldes heraus an die Welt des sozial bessergestellten und kulturell anspruchsvolleren Bürgertums herangeführt. Dabei erkannte ich, dass trotz Proklamierung eines angeblich nationalen „Sozialismus“ und der vielbeschworenen Gleichstellung der Menschen im Dritten Reich, große Standesunterschiede vorhanden waren. Im selben Ausmaß wie sich diese Erkenntnis bei mir festigte, beherrschten mich mitunter eine ziemliche Unsicherheit und innere Hemmnisse. Als wir sechzehn Jahre alt wurden und traditionsgemäß die Schülertanzstunde der bekannten Altenburger Tanzschule Schaller zu besuchen war, musste mir zum Beispiel Günter Rottmann sehr ins Gewissen reden, dass ich mich dort anmeldete. Ich habe es nicht bereut, dass wir dort außer den Tanzschritten bei Tango, Foxtrott, Rheinländer und Walzer auch mancherlei über manierliches Verhalten in der Gesellschaft lernen konnten. Von unseren Tänzerinnen kamen viele aus gutsituierten Verhältnissen. Wir kannten sie mehr oder weniger gut aus den Hitlerjugendveranstaltungen und vom Altenburger Freibad. Manche waren zickig, andere waren sehr liebenswert. Mit meiner Tanzstundendame hatte ich Glück. Ruth Lindig stammte zwar aus begütertem Hause aber sie war ein durch und durch natürliches Mädchen. Ich kannte sie schon als Führerin einer Jungmädelschar. Bei ihr habe ich meinen ersten Hausball erlebt, mit Küsschen auf dem im nächtlichen Dunkel liegenden Balkon. Ihr Passbild habe ich später mit noch einigen anderen in meiner Uniformjacke durch die schrecklichsten meiner Jahre getragen.
10. Zwei Mädchen vom Jahrgang 1929
Im Jahre 1936 wurde meine Schwester Elfriede eingeschult.