Als sie gehen wollen, dreht sich Kappe nochmals um und bittet Tam zu fragen, ob der schicke Flitzer im Hof Herrn Wong gehöre.
«Der Herr sagt ja, das ist sein Auto, ein deutsches Auto, ein gutes Auto. Er ist stolz auf diese Technik», übersetzt Tam.
«Nicht billig!», meint Kappe.
«Billig ist nicht gut! Teuer ist deutsch und gut! Wir arbeiten gut und viel und hart und verdienen Geld für gutes Auto», sagt nun wieder Wong, ohne dass Tam übersetzen muss. «Wenn Sie wollen, ich zeige Ihnen.»
«Nein danke! Sehr liebenswürdig!» Kaum hat Kappe das gesagt, ärgert er sich. Einmal in so einen Wagen zu schauen wäre ja noch keine Bestechlichkeit gewesen.
Im Gänseschritt marschieren Tam und Kappe hinter dem hellgrün gekleideten Diener in den zweiten Stock des linken Seitenflügels, vorbei an immer noch emsig stapelnden und auspackenden Chinesen.
Keung wohnte gemeinsam mit drei anderen Chinesen in zwei Zimmern, jedes etwas größer als Kappes Küche. Die Bewohner teilen sich mit den zwei gegenüberliegenden Zimmern eine Kochecke und ein Klo eine halbe Treppe tiefer. Von den Mitbewohnern sind nur zwei da, die kaum Deutsch sprechen.
«Gute Ware!» und «Billiger Preis!». Mit diesen Worten begrüßen sie Kappe. Allzu sehr scheinen sie nicht um Keung zu trauern. Erst als Tam erklärt, es gehe nicht ums Kaufen und Feilschen, und er nach Keung fragt, sagen sie, jeder hätte sein Revier gehabt. Keung sei seit Jahren im Kreuzberger Wrangelkiez unterwegs gewesen. Sie verkaufen in Wedding am Sparrplatz und in Moabit.
«Sie sagen, sie hätten sich nur mal zum Mahjong oder zum Essen getroffen und nicht viel gesprochen. Herr Keung sei ein liebenswerter Mensch gewesen. Er habe auch nicht geschnarcht.»
Ein nachvollziehbares Mordmotiv ist also auszuschließen, denkt sich Kappe. Mehr aus Routine als aus Wissbegierde lässt er Tam fragen, wo die beiden anderen Mitbewohner zur Tatzeit am gestrigen Abend gewesen seien.
«Beide sagen, sie seien hier gewesen», übersetzt Tam, «zu Hause! Hätten gekocht mit den Bewohnern von gegenüber. Diese könnten das bestätigen.»
Kappe verzichtet darauf. Ein solches Alibi ist es nicht einmal wert, verifiziert zu werden. Er hat genug. Genug gehört und genug gesehen in den heruntergekommenen Kammern, wo es für die Kleider nur Truhen gibt und wozwischen den großen Kollektionskoffern, dem Bett und den drei Stühlen kaum noch Platz auf dem Boden ist. Aber selbst dieser Platz wird genutzt: als Ablage für verschmutzte Wäsche, für halbvolle Teetassen und volle Aschenbecher. Es riecht ein bisschen nach Gewürzen wie in der Eckkneipe. Allerdings vermischt sich hier dieser Geruch mit körperlichen Ausdünstungen ungewaschener Männer. Kappe will weg. Schleunigst.
Vor der Tür verabschiedet er sich von Tam. Er sagt ihm, er möge morgen Vormittag aufs Polizeipräsidium kommen, damit man einen Vertrag fürs Dolmetschen machen könne, und er möge seine Papiere mitbringen.
Auf dem Weg zum Schlesischen Bahnhof sieht Kappe, wie junge Chinesen mit deutschen Mädchen flachsen, ein älterer Deutscher mit drei jungen Chinesinnen plaudert und ein deutsch-chinesisches Paar Arm in Arm flaniert, als seien das hier die Linden.
Watteweichwarm. So fühlt er sich. Das Federbett, das seine Klara vor der Hochzeit noch günstig im Kaufhaus Rudolph Hertzog erstanden hatte, liegt leicht über Kappes nacktem behaartem Oberkörper.
War doch recht spät geworden gestern Abend. Auf dem Heimweg hätte er besser nicht noch mal einkehren und noch ein Bier trinken sollen. Klara hatte schon geschlafen, und er hat sich nicht mehr komplett ausgezogen.
Nun schmiegt er seinen Kopf in den Zufluchtsraum aller Männer, die nicht denken, nicht reden und am liebsten im Boden versinken wollen: zwischen die Unterseite des Kinns der geliebten Frau – oder wenigstens derjenigen, mit der man das Bett teilt – und dem Beginn der Brustebene oberhalb des Busens. Wer Glück hat, und Kappe kann in dieser Beziehung nicht klagen, spürt mit seinem unrasierten Kinn noch die oberen Ausläufer warmer, weicher weiblicher Rundungen.
Bei Klara gibt es für Kappe stets etwas zu spüren, sie ist üppig gebaut. Nur leider nachts immer brav in dicke, baumwollene Nachthemden eingepackt.
Trotzdem! Kappe kuschelt sich an diesem Morgen ganz besonders gern in diesen vom weiblichen Körper geformten Zufluchtsraum, der einen Augenkontakt unmöglich macht. Auch dann, wenn es die Frau darauf anlegt – so wie jetzt Klara, die, nachdem der Wecker bereits heftig klingelte, ohne bei Kappe auch nur die geringste Reaktion hervorzurufen, wissen will, wo er denn so lange gewesen sei. Sie kneift ihn dorthin, wo er sich früher sportlich durchtrainiert anfühlte.
«Morgen», brummt Kappe, ohne mit seinem Kopf den sicheren Raum zu verlassen.
«Und?», fragt Klara.
Bei so einem spitzen «Und?» ist es taktisch sinnvoll, schnell und umfassend zu antworten, hat Kappe gelernt. «War noch ermitteln … im Chinesen-Viertel … Dieser Mord, du weißt schon … Alles knifflig … Von Canow will schnell Ergebnisse haben.»
«Aber nicht Sonntagnacht!»
«Doch!», entgegnet Kappe.
«Und die Vernehmungen finden dann bei Bier und Buletten statt – oder wie? Du hast geduftet wie ’ne ganze Eckkneipe, als du
kamst.»
«Ach, warst du noch wach? Wusst ich nicht. Ja, ich musste dahin.»
«War ich, ja, aber du hast ja nichts mitbekommen.» Kappe versucht, Klara einen Kuss auf den Mund zu geben. Aber er trifft nur ihre Wange. Zu schnell hat sie sich weggedreht.
Gut, er hat auch immer Kinder gewollt. Nun ja, eigentlich hat er sich nie so richtig Gedanken darüber gemacht. Es gehört einfach dazu, welche zu haben. Aber dieses frühmorgendliche Gequäke, dieses frühe Wach- und Fröhlichsein, das kann Kappe noch immer nicht verknusen. Nun aber freut er sich ausnahmsweise, als er das Rütteln an der Schlafzimmertür und die hohen Stimmen von Margarete und Hartmut hört. «Die Kinder!», sagt er. Eine effiziente Methode, um jedes Gespräch abzuwürgen.
«Ich geh schon! Die sollen dich nicht so sehen. Komm erst mal zu dir!» Mit diesen Worten springt Klara aus dem Bett, schlüpft in ihren Bademantel und ist auch schon zur Tür hinaus.
Gleich wird Klara wieder vor ihm stehen, denkt er, und ihm eine Predigt halten, dass er aufstehen müsse. Er wird dann sagen, er wolle nur noch einen kleinen Moment «nachdenken». So nennt er das immer, wenn er noch im Bett bleiben will. Klara wird, wenn sie gut gelaunt ist, darauf eingehen und sagen, er solle im Präsidium weiterdenken, denn dort werde er dafür bezahlt, oder sie wird einfach nur sagen: «Raus jetzt!»
Was sie an diesem Morgen sagt, bekommt er nicht so genau mit. Er weiß nur, dass sämtliche Informationen, die in seinem Kopf ankommen, langsamer verarbeitet werden als sonst. Deshalb braucht er auch am Küchentisch einen Moment länger, um die Tragweite des Satzes von Klara zu verstehen, die sagt: «Am Freitag beginnt im Graphischen Kabinett Neumann eine Ausstellung von Max Beckmann. Die könnten wir uns doch ansehen, und dann könnten wir uns gleich mal nach ’ner besseren Wohnung umsehen, dort im Westen. Du hast es mir ja versprochen.»
Eigentlich wollte er seit dem Eheversprechen kein weiteres Versprechen leichtfertig abgeben, aber er erinnert sich dunkel daran, mal gesagt zu haben, man könne über einen Umzug reden. Mehr aber nicht. Nur weil da diese Angeber wohnen, will Klara da auch hin. Ausgerechnet sie, eine ehemalige Verkäuferin aus dem Kaufhaus. Sie weiß, dass George Grosz mit seiner Frau Eva Peters an den Hohenzollerndamm 201 gezogen ist. Sie weiß, dass es vor zwei Jahren die erste internationale Dada-Messe in Berlin gab. Diese Reichswehr-Beleidiger, diese Klassenhass-Aufstachler mussten ja zahlen dafür: Verleger Herzfelde sechshundert und Grosz dreihundert Mark, wenn sich Kappe recht erinnert. Und ausgerechnet seine Frau muss solche hässlichen Gestalten auf Bildern gut finden, solche ätzenden Karikaturen kahlköpfiger Kriegsgewinnler und verstümmelter Kriegsheimkehrer, die blind und amputiert Streichhölzer feilbieten. Hätte sie nur vor zwei Jahren Hartmut nicht im Urban bekommen! Sie hätte Ruth, die andere Mutter im Krankenzimmer, nie kennengelernt, diese Kunst-Amsel, die im Malik-Verlag