Nach Erledigung dieses Zwischenfalles reichte Anna mir die Hand und wir nahmen Abschied von einander. Ich bat meine Freundin, mir ein freundliches Andenken zu bewahren; sie versprach mir dies und wünschte mir alles Gute auf den Weg. Mit den althergebrachten treuherzigen Worten: „Bliew gesund un munter, Fritz! Lat di’t man recht good gahn!“ ging sie von mir. Von Weitem rief sie mir noch eine „Gute Nacht“ zu, dann verschwand sie in der Thür ihres väterlichen Hauses und ich wandte mich der Straße zu und begab mich auf den Heimweg.
Die Nacht war inzwischen völlig hereingebrochen. Eine milde, warme Frühlingsnacht war es die sich auf das Dorf herniedersenkte und Wiesen und Felder, sowie den Wald und die Heide in der Ferne in schwarze, undurchsichtige Schatten einhüllte. Die Bewohner der Bauernhäuser und Kathen, an denen mein Weg vorüber führte, ruhten meistens schon von der schweren Arbeit des Tages, nur in einzelnen Häusern noch stand die der Straße zugekehrte große Thür, welche die Einfahrt zur Diele bildet, offen und man sah die Bewohner bei dem auf dem niedrigen Herde hell brennenden Feuer beschäftigt. Vielleicht mengten die Frauen Teig an – „Süern“ nennt man dies in Plattdeutsch –, um am andern Tage Brod zu backen, oder eine andere unaufschiebbare Arbeit hielt die Insassen noch wach.
Friedliche Stille herrschte ringsum, kein Lüftchen regte sich in den noch unbelaubten Zweigen der hochstämmigen Eichen und Buchen auf den Hofplätzen; aus der Ferne erscholl allerdings der Gesang der Burschen und Mädchen, die sich zu frohem Zeitvertreib im Dorfe auf dem Platze bei der Linde versammelt hatten, und in den Pausen machte sich das Gequack der Frösche bemerkbar, welche in den Sümpfen einer in der Nähe des Dorfes gelegenen Niederung hausten. Diese braven unverwüstlichen Frühlingsbassisten ließen ihre Stimmen aber nur erst noch vereinzelt und unter bescheidenem Kraftaufwand ertönen. Es war das Piano des Erprobens und richtigen Abwägens der Stimmen; jeder feucht-versumpfte Sangesbruder übte noch für sich allein. Von einem kräftigen anhaltenden Chorgesange konnte noch nicht die Rede sein, dazu war die Saison noch nicht weit genug vorgeschritten.
Vom Dorfe herüber erklang es indessen:
„Morgen will mein Lieb abreisen,
Abschied nehmen mit Gewalt...
– – –
Laub und Gras das mag verwelken,
Aber treue Liebe nicht;
Kommst Du mir gleich aus den Augen,
Doch aus meinem Herzen nicht.“
Ohne über den Inhalt des alten Volksliedes weiter nachzudenken, stimmte mich die schwermüthig-langgezogene Weise ernst und wehmüthig und unter dem Eindruck dieser Stimmung erreichte ich die Behausung meiner Eltern.
3.
Auf der Wanderung nach der Garnison.
Es war im Familienrathe beschlossen worden, daß mein Vater mir bis Lüneburg das Geleite geben sollte.
Also begaben wir Beide uns am folgenden Tage früh Morgens auf die Reise. Bis Harburg, welches etwa 4 bis 5 Meilen entfernt war, gedachten wir zu Fuß zu wandern; von dort wollten wir zur weiteren Reise die Bahn benutzen.
Die Mehrzahl der Eisenbahnlinien, welche jetzt die Heide durchschneiden, war damals noch nicht vorhanden; die Strecke Bremen-Hamburg war allerdings vermessen und von der Regierung genehmigt, aber noch nicht im Bau begriffen. Auf den Landstraßen gab es allerdings Post- und Omnibusfuhrwerke, aber die Fahrzeiten waren meistens auf die Nacht verlegt, auch war das Reisen mit der Post ziemlich kostspielig. Man mußte sich also, besaß man kein eigenes Fuhrwerk, auf Schusters Rappen verlassen. Fußwanderungen von 10 bis 12 Stunden waren nichts Ungewöhnliches; ich selber bin solche und noch weitere Strecken oft in einem Tage marschirt. Die jungen Bursche im Dorfe, welche in Hannover bei den Gardetruppen dienten, legten den 16stündigen Weg bis dahin regelmäßig in einer Tour zu Fuß zurück. Das waren gute Vorübungen, um marschfähige Soldaten zu erzielen, mit denen es möglich war Außerordentliches zu leisten. So legten, wie nebenbei bemerkt werden mag, im Holsteinischen Feldzuge am 29. Mai 1848 die 5. und 7. Compagnie vom Lüneburger Regiment (deren Mannschaften vorwiegend der Heide entstammten), um an dem Gefecht bei der Nübeler Mühle theilnehmen zu können, in 38 Stunden ein Strecke von 26 Stunden Entfernung zurück, ohne daß sie einen einzigen Mann als marode hätten zurücklassen müssen. Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, daß dieser Marsch bei große Hitze ausgeführt wurde und daß zu damaliger Zeit die Infanterie viel schwerer bepackt war als heutigen Tages.
Es wäre zu wünschen, wenn in unserem Zeitalter, wo die große Mehrzahl der Handwerksgesellen (von den wohlhabenden Classen gar nicht zu reden) mit der Bahn fährt und ein Marsch von wenigen Meilen als eine große Kraftleistung gilt, Gottfried Seumes Wahlspruch: „Vieles ginge besser, wenn man mehr ginge“, wieder beherzigt würde. Man sollte sich darauf besinnen, daß die Natur uns die Füße nicht gab, um sie in modisch enge Stiefelchen einzuzwängen, daß der Mensch nicht lediglich geschaffen ist, um sich von der Locomotive oder von dienstbereiten Vierfüßlern von einem Ort zum anderen schleppen zu lassen. Körper, Geist und Gemüth würden gewinnen und die Menschen sich näher kommen, wenn man wieder mehr auf eigenen Füßen sich einher bewegte, sich die Welt mehr auf freier Wanderung über Berg und Thal, durch Wald und Heide ansähe, als durch die von Staub und Wasserdunst getrübten Fenster eines Eisenbahncoupees.
Früh um fünf Uhr hielten wir unseren Auszug. Ein sonniger, herrlicher Frühlingsmorgen lag über dem Dorfe. Aus den Giebelöffnungen und Schornsteinen der strohgedeckten Häuser stieg blauer Rauch empor, die Pferde wieherten in den Ställen und auf den Hofplätzen und Zäunen krähten lustig die Hähne, umgeben von der gackernden und scharrenden Hühnerschaar; Gänse streckten unter vorlautem Geschnatter die Hälse in schlangenartigen Windungen durch die Lücken der Einfriedungen und hier und da begrüßte uns ein zottiger Hofhund mit fröhlichem Gebell und vertrautem Wedeln des buschigen Schweifes. Oft trat dann der Besitzer des Hauses, durch das Gekläff neugierig gemacht, vor die Thür und frug nach unserem Vorhaben und nach dem Ziel unserer Reise.
Außerhalb des Dorfes, im Felde, wo frischgrüne Saaten sich weithin erstreckten, sowie in der braunen Heide, die uns umgab, als wir Dorf und Feldmark im Rücken hatten, begrüßte uns vielstimmiger Sang munterer Lerchen. Klar und rein, durch keine Wolke getrübt, wölbte sich über uns der blaue Äther. Ein frostiger Hauch hatte vor Sonnenaufgang die während der Nacht aufgestiegenen Wasserdünste zertheilt und zu Boden geschlagen, zu Millionen Tropfen verdichtet hingen die blinkenden Thauperlen an den Spitzen der Grashalme und an den Zweiglein des braunen Heidekrautes.
Durch die Aussicht auf den von allen Seiten sich ankündenden herrlichen Frühlingstag in beste Stimmung versetzt wanderten mein Vater und ich fröhlich unseres Weges. In dem nächsten Dorfe hielten wir eine kurze Rast. Es wohnte dort in einem einsamen Hüttlein unfern des Weges ein altes Mütterlein, die Schwester meines Großvaters. Von ihr mußte noch Abschied genommen werden.
Wir trafen die Großtante am Heerdfeuer. Sie saß auf einem niedrigen strohbeflochtenen Schemel und stocherte mit der Feuerzange in die Asche. Augenscheinlich war sie beschäftigt, sich den Morgencaffee zuzubereiten. Als wir sie begrüßten, sah sie erfreut auf und reichte uns mit einem herzlichen, „Willkommen!“ die Hand. Wir erwiderten den Gruß mit dem herkömmlichen „Dank ok!“ und setzten das Mütterchen sodann von unserem Vorhaben in Kenntniß. Unser Besuch währte jedoch