Die Carrer La Riera war nur einen Steinwurf von der Gasse entfernt, in der Pep zu Hause war.
Als er dort ankam, war bereits die gesamte Straße abgesperrt. Das Haus mit der Nummer 12 wurde wie immer von einer Menge schaulustiger Leute belagert.
Pep musste sich durch einen Wust von Polizisten und Gaffern kämpfen, um an den Fundort der Leiche zugelangen. Beim Betreten des Hauses kam ihm ein furchtbarer Gestank von Moder und Urin entgegen.
Im hinteren Bereich des schmalen Hausflurs, der zur Kellertreppe führte, hatte der Täter sein Opfer abgelegt. Auf der rechten Seite führte eine steile schmale Stiege in die darüberliegenden Stockwerke. Hier hatten die Kollegen von der Spurensicherung eine Lampe aufgestellt, um in dem dunklen Flur etwas sehen zu können.
Erstaunlicherweise waren bereits alle seine Kollegen vor Ort, die ihn mit einem fröhlichen »buenos dias« begrüßten. Laura Velasquez, die sich über die Leiche beugte, konnte es sich nicht verkneifen, ihn mit einem »buenos dias, Pep, auch schon da?«, zu begrüßen. Langsam wurde es ihm peinlich, dass er immer der Letzte war, der am Ort des Geschehens eintraf.
Pep überhörte Lauras Bemerkung und wandte sich ab.
Doktor Montes war bereits so gut wie fertig mit seiner Arbeit.
»Kannst du mir schon etwas sagen?«, fragte Pep den Gerichtsmediziner.
Doktor Montes lächelte und entgegnete: »Außer, dass sie tot ist und dass sie dort, wo sie jetzt liegt, nicht getötet wurde, kann ich dir im Moment nichts sagen. Schau dir mal da vorn die Blutspuren an der Wand an, da hat der Täter sie umgebracht.« Er wies mit der rechten Hand in den vorderen Bereich des Hausflurs.
»Und wieder der gleiche Täter?«
»Sieht so aus, Pep. Wie du unschwer erkennen kannst, hat er ihr die Kehle durchgeschnitten und sie mehrmals in die Brust gestochen.«
»Also haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun, der seinen Opfern erst die Kehle durchschneidet und dann noch unnötigerweise mit dem Messer auf sie einsticht.«
»Genauso ist es, Pep, aber das macht die Sache nicht besser«, sagte Montes mürrisch und wandte sich an seine Kollegin.
»Laura, lass sie in die Gerichtsmedizin bringen, wenn du hier fertig bist.« Montes steckte sich eine Zigarette an und entfernte sich wortlos vom Tatort.
Der Kollege Xavi war damit beschäftigt, sich die Namen einiger Leute zu notieren, die vor dem Haus neugierig wissen wollten, was dort im Inneren des Gebäudes passiert war.
Die alte Conchita, die betagte Ex-Hure, hatte sich natürlich auch schon eingefunden und wusste wieder mehr als alle anderen. Sie hatte bereits eine Traube von Menschen um sich geschart und war sich sicher, den Tathergang genauestens zu kennen.
Pep erkannte das Opfer sofort, obwohl der Leichnam sehr stark mit Blut verschmiert war.
»Das ist Melisa Agramontes«, bemerkte er kurz.
Laura Velasquez schaute ihn erstaunt an, ohne ein Wort zu sagen.
Die Blutspuren, die sich an der Wand im vorderen Bereich des Hausflurs befanden, waren zweifelsfrei von der Toten. Auf dem Boden im Eingangsbereich des Hauses lagen drei Zigarettenstummel der Marke Lola, die sorgfältig eingetütet und mitgenommen wurden.
Außerdem entdeckte Pep in der großen Blutlache im vorderen Bereich noch einige Fußspuren. Diese Spuren waren entweder vom Täter oder irgendeine Person war hier herumgetrampelt. Eine chaotische Situation. Pep bemerkte Leute, die sich Zugang verschafft hatten und die er nie zuvor gesehen hatte.
Laura Velasquez war die einzige, die die Lage im Griff zu haben schien. Pep kannte die Forensikerin als eine besonnene Kollegin, aber das sollte sich augenblicklich ändern.
»Wenn du nicht gleich dafür sorgst, Pep, dass die Leute verschwinden, die hier nichts zu suchen haben, schmeiße ich sie alle eigenhändig hinaus. Dies ist ein Tatort und kein Rummelplatz.«
Pep war so erschrocken, dass er umgehend tat, wie ihm geheißen wurde. Inzwischen schien Laura sich wieder beruhigt zu haben und wandte sich erneut ihrer Arbeit zu. Akribisch machte sie Fotos von den Fußspuren, die möglicherweise vom Täter stammen konnten.
Die Wände des Hausflurs waren bis zur Höhe von einem Meter fünfzig in einer hässlichen braunen Farbe gestrichen, an der auch schon der Zahn der Zeit genagt hatte. Die braune Farbe war an vielen Stellen bereits abgeplatzt und man konnte erkennen, dass die Wände einmal blau gewesen sein mussten. Laura hatte einige Stellen dieser Wand abgeklebt und suchte verzweifelt nach Fingerabdrücken.
Die Leiche war inzwischen abtransportiert und in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Laura hatte ihre Arbeit getan und packte ihre Utensilien zusammen.
»So, jetzt gehen wir erst einmal frühstücken«, sagte Pep und schaute die beiden am Tatort verbliebenen fragend an. »Und, was ist mit euch?«
Die Einladung sollte in erster Linie Laura gelten, die dem unerfahrenen Pep vor wenigen Augenblicken ein paar Worte gesagt hatte, die ihm sicherlich nicht gefallen konnten. Pep war anfangs etwas in seiner Eitelkeit gekränkt, aber er musste schnell erkennen, dass ihr Wutausbruch seine Berechtigung gehabt hatte. Er war der Verantwortliche am Tatort und hätte dafür Sorge tragen müssen, dass die Spurensicherung zunächst ihre Arbeit machen konnte. Eigentlich hatte er gelernt, dass niemand den Tatort zu betreten hatte, bevor die ›Spusi‹ nicht die vermeintlichen Spuren gesichert hatte. Das alles hatte Pep in seiner Aufregung außer Acht gelassen.
»Ich muss in die Forensik zurück, auf mich wartet noch ein Haufen Arbeit«, sagte Laura und entfernte sich.
Zurück blieben die beiden noch unerfahrenen Polizisten, die sich betont selbstbewusst gegeben hatten, wobei zumindest die aschfahle Farbe im Gesicht von Xavi etwas anderes andeutete.
Pep hatte sich dabei ertappt, dass er den Freund eine Weile am Tatort beobachtet hatte. Er war einmal mehr von der Gelassenheit seines Partners Javier Fernandez überrascht. Xavi versuchte, sich besonders cool zu geben, aber Pep kannte ihn besser: Das würde nicht spurlos an einem jungen Polizisten vorübergehen, der sich dafür entschieden hatte, im Dreck zu wühlen, obwohl er es gar nicht nötig hatte.
Pep musste an Xavis Vater denken, der durchaus in der Lage gewesen wäre, für seinen Sohn etwas Besseres zu finden. Javier Fernandez war intelligent genug, zu wissen, dass man mit ›Vitamina‹, wie man es nannte, alles machen konnte. Aber er wollte wohl sein eigenes Ding machen und außerdem schien er es zu mögen, mit Pep zusammenarbeiten zu dürfen. Für ihn war die Freundschaft zu seinem Kollegen Pep viel wichtiger als die Privilegien seines Vaters.
Die beiden entschieden sich für die Cafeteria Metro, die sich an den Ramblas del Raval befand.
*
Dem jungen Pep war eigentlich nicht nach Kaffee zumute, er spürte Traurigkeit und ein tiefes Mitgefühl für die Opfer. Seit seiner frühesten Jugend hatte er ein Faible für die Damen aus dem Milieu. Die Prostituierten hatten seine Kindheit geprägt.
Er hatte erkannt, dass man sich am besten bei den sogenannten Putas, den Huren, etwas Taschengeld verdienen konnte. Sie verdienten schnelles Geld und genauso schnell gaben sie es auch wieder aus. Zweidrittel der in El Raval lebenden Damen prostituierten sich und lebten vom Sextourismus der siebziger Jahre. Pep war im zarten pubertären Alter von dreizehn Jahren und dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan.
Alle Huren im Barrio Chino kannten den kleinen Pepito, den Sohn der Maria, der bereits im frühesten Kindesalter seiner Mutter im Geschäft helfen musste. Andere Kinder seines Alters begannen, die Touristen zu beklauen, die Frontscheiben der Autos zu reinigen oder zu betteln. Pep hatte sich für eine andere Variante entschieden. Er mochte die Damen aus dem Milieu und alle Huren waren geradezu vernarrt in den kleinen Zigeunerjungen.
Am liebsten waren ihm die Botengänge für Pilar. Sie war eine hübsche junge Hure mit langen schwarzen Haaren und üppigen Kurven. Sie war aus Andalusien, was man unschwer an ihrem Dialekt erkennen konnte.
Um etwas größer zu wirken, trug sie immer Schuhe