Ferdinand hatte von den Duellen gehört, die zwar illegal, aber zumeist geduldet waren. Dass in unmittelbarer Nähe eines beliebten Ortes für die Zweikämpfe ein toter Offizier lag, ließ den Leichenfund in einem neuen Licht erscheinen.
13. Januar, 4 Uhr nachmittags
Zu Gesprächen in das Bureau des Schuldirektors ging Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard auch nach all den Jahren an der Lehranstalt immer noch mit einem Gefühl der Unsicherheit. Das galt insbesondere, wenn Generalmajor von Schnöden ihn so überraschend zu einem Termin einbestellte. Gontard hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Selbst besonders dumme Studenten wie der dicke von Ahlewitz konnten sich kaum über eine ungerechte Behandlung beklagen. Andererseits ließen sich ostpreußische Junker bei der Unterstützung ihrer degenerierten Nachkommen nicht lumpen. Erwartete Gontard eine Warnung? Wollte von Schnöden den väterlichen Freund spielen, der auch nichts für die Dummheit in der Welt konnte, ihn aber um Obacht im Umgang mit den Strohköpfen bat? Für solche Albereien fühlte Gontard sich zu alt. Daher klopfte er an die Tür, dass es krachte.
Der Diensthabende öffnete, als habe er dort gewartet. »Ich werde den Herrn Generalmajor umgehend über Ihr Kommen unterrichten«, sagte er aus dem Vorzimmer heraus. Der dürre Kerl sah aus wie einer von denen, die jeden Abend soffen, denn er trug schon mit seinen jungen Jahren eine purpurrote Nase. Diese verharrte regungslos, bis Gontard nickte. Dann flitzte der Mann los.
Gontard trat ins Vorzimmer und schaute dem Gefreiten hinterher, der im Bureau des Generalmajors verschwand. Kaum einen Wimpernschlag später tauchte die Schnapsnase wieder auf. »Der Generalmajor erwartet Sie.«
Gontard dankte mit einem Handzeichen und schritt durch das Vorzimmer zur offenen Tür des Schuldirektors.
»Da sind Sie ja!«, sagte von Schnöden und blickte von Gontard zur Wanduhr, die gerade vier Mal schlug. »Pünktlich wie die preußische Post. Das lob ich mir, mein lieber Herr Oberst-Lieutenant. Nehmen Sie doch Platz!«
Gontard setzte sich auf den Sessel neben dem kleinen Teetisch, und auch der Generalmajor ließ sich ins Polster fallen. Obschon sich der Schuldirektor auf einem höheren Sitz niedergelassen hatte, wirkte seine Gestalt gebeugt, als drücke eine Last auf seine Schultern. »Wie geht es der werten Familie, Herr Oberst-Lieutenant?«
»Alle sind wohlauf«, sagte Gontard und dachte an die Form der Einbestellung mittels Bote und Schriftstück. So einen Aufwand betrieb keiner, um sich nach dem Befinden der Familie zu erkundigen. Dennoch klang von Schnödens Freundlichkeit echt.
Der Schuldirektor schien sich mit der Antwort nicht zufriedenzugeben und schaute aufmunternd.
Also fuhr Gontard fort: »Meine Frau und die Tochter hüten das traute Familienheim. Und mit meinem Sohn in der Breslauer Garnison correspondiere ich.«
Von Schnöden setzte ein verständnisvolles Großvaterlächeln auf und fragte: »Meldet er sich denn regelmäßig? Man hört ja viel über das mangelhafte Verhältnis der jungen Leute zum geschriebenen Wort.«
»Ich kann nicht klagen, beinahe jede Woche trifft Post von ihm ein.« Gontard fühlte sich ein wenig verschaukelt. Was sollte dieses Geplauder?
»Das freut mich.« Von Schnöden strich sich durch seinen eisgrauen Schnurrbart, als müsse er das Lächeln wegwischen. »Dennoch ist es wohl an der Zeit, dass Sie Ihren Filius wieder einmal persönlich beehren, lieber Herr Oberst-Lieutenant.«
Gontard merkte, wie die Spannkraft aus seinen Gesichtsmuskeln zu entschwinden drohte. Gerade so konnte er verhindern, dass ihm die Kinnlade herunterklappte.
»Ich sehe schon, Sie fragen sich, was es mit meiner Bemerkung auf sich hat.«
Gontard fand keine Worte. Immerhin gelang es ihm, die Augenbrauen zu heben. So hatte er wenigstens das Gefühl, nicht wie ein Narr auszusehen.
Das großväterliche Lächeln im Gesicht des Schuldirektors wurde immer breiter. »Am besten, Sie nehmen gleich heute Nacht den Schnellzug.«
»Heute Nacht?« Gontard merkte, dass er die Worte geradezu gerufen hatte, eine Spur zu laut.
»Ja.« Von Schnöden wurde mit einem Schlag ernst.
Gontard kannte die Angewohnheit des Schuldirektors, in Rätseln zu sprechen. Er ließ auch nicht mit sich diskutieren, wenn er eine Order von oben hatte – und genau darauf deutete das geheimnisvolle Verhalten von Schnödens hin.
»Sie müssten sich das Wochenende freihalten, mein lieber Oberst-Lieutenant. Es geht um einen Auftrag, zu dessen Erledigung ich eine Person brauche, der ich restlos vertrauen können muss.« Das klang wie ein Kompliment. Das Antlitz des Schuldirektors wirkte plötzlich so wichtig wie seine Uniform.
Gontard schwieg.
»Ich kann Ihnen keine Details nennen«, fuhr von Schöden fort und zog ein Couvert aus seinem Waffenrock. »Dieses Schreiben muss auf Geheiß von ganz oben Generalmajor von Frohwitz übergeben werden. Ungeöffnet und persönlich. Daher möchte ich jemanden schicken, auf dessen Loyalität ich mich blind verlassen kann.«
Wohl eher jemanden, der keine Fragen stellt, dachte Gontard. Er sagte: »Ganz oben heißt …« Von Schnöden nickte und schwieg.
Bei Seiner Majestät oder der königlichen Familie wollte Gontard nicht zwischen irgendwelche Fronten geraten, da stand man zu schnell auf der falschen Seite. Daher murrte er: »Nun, mein Bursche ist krank, und eigentlich wollte ich am Wochenende …«
»Ach, hören Sie auf, mein lieber Herr von Gontard«, unterbrach ihn der Schuldirektor. »Wenn Sie jemanden brauchen, der Ihre Bagage trägt, dann verpflichten Sie doch einen Ihrer Lieutenants. Sie kennen mich lange genug und sollten wissen, dass ich mit so einem Anliegen nur an Sie herantrete, wenn eine außerordentliche Dringlichkeit vorliegt.«
»Also gut.« Gontard streckte die Hand nach dem Schreiben aus. Von Schnöden ließ ohnehin nicht mit sich reden. Deshalb beschloss Gontard, das Positive an der Sache zu sehen: Er würde Ferdinand auf Kosten Seiner Majestät besuchen.
Von Schnöden übergab Gontard das Couvert und sagte: »Hierüber verlieren Sie kein Wort! Sie fahren aus privaten Gründen zu Ihrem Sohn in die Garnison. Verstanden?«
Ferdinand von Gontard schritt den Exerzierplatz entlang. Ein Zug Rekruten übte unter den Befehlen eines Gefreiten den Marsch im Stechschritt. Ansonsten herrschte Ruhe – endlich. Quappe saß beim Feldscher und jammerte dem bestimmt die Ohren voll. Nach der ersten Einschätzung des Militärarztes hatte der Knecht sich das Bein nicht gebrochen, sondern nur verstaucht. In ein paar Tagen sollten die Schmerzen nachlassen. Vermutlich würde Quappe dennoch den ganzen Winter hindurch auf seine Verletzung verweisen, um seine Dienstpflichten so weit wie möglich zu umgehen.
Das Bündel mit den Fundstücken drückte immer mehr auf Ferdinands Schultern. Der Stoff taute offenbar auf, und die abgestandene Nässe kroch in Ferdinands Waffenrock. Das Zeug roch nach vermoderten Pilzen. Diesen Geruch sollte seine Uniform nicht annehmen. Also lief Ferdinand schneller, ließ die Befehle und Stechschritte hinter sich.
Auf dem Kasernenhof schlitterte er über ein vereistes Stück des freigeschaufelten Weges. Er ruderte mit den Armen, das Bündel fiel zu Boden, doch er selbst konnte sich aufrecht halten. Dabei kam er sich vor, als balanciere er über Murmeln. Er rutschte immer schneller. Gerade noch schaffte es Ferdinand, mit einem Satz zur Seite zu springen. Im Schnee fand er schließlich Halt. Die Knie zitterten noch, aber die Gefahr war gebannt. Glück gehabt! Verletzt wäre er kein guter Ermittler gewesen. Auch wenn er nicht so ein Theater wie Quappe veranstalten würde. Nicht einmal, wenn eines seiner Beine beim Feldscher geblieben wäre. Obwohl, dann vielleicht schon … Ferdinand schob den Gedanken beiseite, befreite sich aus dem Schnee und hob das Bündel auf, um durch den Tiefschnee neben dem Pfad zur Unterbringung