»Quatsch«, denkt sie. Sie will es nicht hinnehmen, alles mit einer Midlife-Krise zu erklären. Abnutzung wäre vielleicht der bessere Begriff und Erneuerung das Ziel.
Sie weiß, dass es ihrer Genesung nicht dienen wird. Hinter ihrer Stirn trommeln winzige Hämmerchen. Trotzdem schlägt sie die Bettdecke zurück und stellt die Beine auf den Boden. Sie liebt es, den weichen Kork unter ihren bloßen Füßen zu spüren, das Holz der Treppenstufen, die kühlen Steinfliesen im Flur. In der Küche riecht es nach Abwasch und Abendbrot. Die Möbel im Wohnzimmer sind vertraute Schatten. Sie öffnet die Terrassentür und tritt hinaus auf den nachtfeuchten Rasen. Ihr Nachthemd bauscht sich wie Federn. Sie würde gerne fliegen – oder zumindest irgendwie abheben, ein bisschen die Bodenhaftung aufgeben und etwas völlig Neues erleben. Sie ist nicht mehr jung, aber sie fühlt sich auch noch nicht alt.
Vom Garten aus blickt sie zu dem dunklen Schlafzimmerfenster hinauf. Dort oben träumt ihr Mann. Bei dem Gedanken an ihn weitet sich ihr Herz. Aber gleichzeitig zieht es sich auch zusammen. Wann sind sie sich das letzte Mal begegnet, ohne eine Rolle zu spielen? Wann haben sie sich ihre Seele gezeigt und nicht nur das Bild, das sie voneinander schon seit Jahren kennen?
Sie sind schon lange zusammen: Vor zwei Jahren haben sie ihre silberne Hochzeit gefeiert …
Am Himmel zerschmelzen die Sterne, und über dem Kirschbaum zeigt sich ein erster Lichtstreifen. Im Gartenteich spiegeln sich hellgeränderte Wolken. So hat sie dieses Stück Erde noch nie gesehen. Warum eigentlich nicht?
»Weil ich um diese Uhrzeit noch niemals draußen war«, erklärt sie sich selbst. Was also muss sich ändern? Die Zeit, um den Raum neu zu erleben? Dann vielleicht aber auch der Raum, um die Zeit neu zu fühlen? Oder der Rahmen – was vielleicht bedeutet, etwas auszuprobieren, das sie vorher noch nie gemacht hat, wie zum Beispiel, den Morgen im Garten zu begrüßen.
Sie dreht sich einmal um sich selbst, legt den Kopf in den Nacken und atmet tief die frische Morgenluft ein. Sie taucht ihre Zehen in den Gartenteich und schüttelt die eisigen Tropfen auf die Wiese. Vorsichtig, als wäre dies eine völlig neue Erfahrung, setzt sie einen Fuß vor den anderen. Unter ihren Sohlen knicken die Grashalme. Und plötzlich, während sie sich zum Haus zurücktastet, weiß sie, was sie tun wird.
*
»Hast du dir schon mal überlegt, dass neue Bilder selten in alte Rahmen passen?«, fragt sie.
Zwei Wochen sind vergangen. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, und die Nasennebenhöhlen sind einigermaßen frei, aber sie fühlt sich immer noch verschnupft. Trotzdem ist sie heute Morgen relativ gut aus dem Bett gekommen. Jetzt sitzt sie mit ihrem Mann beim Frühstück. Über ihre Kaffeetassen hinweg schauen sie sich ins Gesicht.
»Nun?«, hakt sie nach. Doch er weiß nicht, was er antworten soll.
Sie stellt ihre Tasse ab und nimmt den Faden wieder auf: »Ich habe lange nachgedacht und gründlich recherchiert. Für ein freiwilliges soziales Jahr bin ich zu alt. Ich finde es auch unfair, einen Platz zu besetzen, der eigentlich jungen Leuten zusteht. Außerdem ist ein Jahr für mich sowieso zu lang … ich würde zu viel aufgeben müssen, was ich mir in den letzten Jahren mühsam aufgebaut habe … meine Arbeit … ich würde mich bloß selber bestrafen …«
»Was willst du eigentlich?«, fährt er dazwischen.
Wie kann sie es ihm bloß verständlich machen? Aber vielleicht muss sie das gar nicht. Vielleicht genügt es, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, egal, was er daraus macht.
»Ich will leben, was ich bin«, sagt sie.
»Tust du das nicht?«
»Ich glaube nicht.«
Er dreht seine Kaffeetasse in den Händen ohne zu trinken. Der Kaffee wird kalt werden. Heute ist es egal. Sie forscht in seinen Augen, die sie ernst anblicken. Irgendwie wirkt er verunsichert.
»Was bist du denn?«, fragt er schließlich.
Endlich ist sie raus, diese Frage, auf die sie so lange gewartet hat. Sie könnte ihm jetzt Romane erzählen, endlich ihre Gedanken vor ihm ausbreiten. Aber sie haben keine Zeit dafür, er muss zur Arbeit. Und außerdem: Zeigt sich die Wahrheit nicht viel mehr im Handeln als im Reden? Sie hat so oft geredet, erklärt, erläutert und beleuchtet, ohne dass sich deswegen irgendetwas geändert hätte. Sie ist müde darüber geworden, und das will sie jetzt nicht mehr.
»Wir werden sehen«, sagt sie.
»Und deshalb musst du unbedingt weg?«
»Ja, ich will den Rahmen wechseln. Ich kann nicht ein neues Bild von mir zeigen im alten Umfeld. Das habe ich versucht, aber es hat mir keiner geglaubt. Am schlimmsten ist, dass ich mir mittlerweile selber nicht mehr vertraue. Ich habe den Eindruck, in meinem eigenen Leben nicht mehr vorzukommen. Das will ich ändern.«
»Und wie stellst du dir das vor?«
»Ich will mich wieder spüren und Zutrauen zu mir finden. Ich will wissen, wo meine Möglichkeiten und wo meine Grenzen sind und was ich wirklich zum Leben brauche. Und ich will unerreichbar sein …«
»Und wie willst du das alles unter einen Hut bringen?«
»Indem ich wandern gehe«, sagt sie.
»Wie stellst du dir das vor? Wo willst du schlafen, und was soll das kosten?«, sprudelt er seine Vorbehalte heraus.
»Keine Sorge, ich werde unsere Haushaltskasse nicht mehr belasten als sonst auch«, entgegnet sie.
»Und wie soll das funktionieren?«
»Spanien«, sagt sie, »Jakobsweg.«
Auf diese Möglichkeit ist sie im Internet gestoßen. Vorher hat sie nicht einmal gewusst, dass es so etwas gibt, Wege, die sich spinnennetzartig durch Europa ziehen und nur ein Ziel haben: Santiago de Compostela in Spanien, das Grab des Apostels Jakobus. Doch sie wird nicht wegen dieses Heiligen unterwegs sein. Ihr Ziel ist es, ihr eigenes Leben einzuholen oder es hinter sich herkommen zu lassen. Sie will die Gelegenheit haben, alles, was sie bewegt, in Ruhe und ohne Ablenkung zu Ende zu denken, und – anders als die meisten Jakobspilger – Gott nicht suchen, denn den hat sie längst gefunden, sondern in neuen Herausforderungen erleben, was es mit seinen Versprechungen auf sich hat.
Er ist skeptisch. Womöglich will er aber auch nur ihren Entschluss ins Wanken bringen. »Ist das nicht gefährlich?«
»Ich glaube nicht. Vielleicht ist es ein Abenteuer«, gibt sie zu, »aber kein echtes Wagnis. Die Wege sind mit gelben Pfeilen ausgeschildert oder mit blauen Kacheln mit Jakobsmuschel drauf. Ich habe gelesen, dass die Bevölkerung aufmerksam und hilfsbereit ist. Es gibt Herbergen in Abständen, die sich bewältigen lassen, wo man für bloß ein paar Euro übernachten kann. Und in jedem Ort kann man Wasser und Vorräte kaufen. Außerdem ist Spanien nicht die Wüste und schon gar nicht ein ferner, fremder Planet. Tausende gehen jedes Jahr diesen Weg, die meisten den sogenannten Camino Francés.«
Sie merkt, wie sie anfängt zu dozieren. Es kann sein, dass er ungeduldig werden wird. Aber sie kann es nicht lassen und redet sich in Rage: »Der Camino Francés führt von Saint-Jean-Pied-de-Port dicht hinter der französischen Grenze über die Pyrenäen nach Roncesvalles und weiter über Pamplona, Logrono, Burgos und Leon bis nach Santiago. Es gibt aber noch eine Menge anderer Jakobsrouten, über die ich nur wenig Informationen gefunden habe, den Camino Primitivo zum Beispiel, der über Oviedo verläuft, oder den Küstenweg über Ribadeo. Ich habe auch was über den Camino Ingles entdeckt, der von Ferrol bis Santiago führt. Der englische Weg verdankt seinen Namen den Pilgern, die von England über die Biskaya nach Ferrol schipperten und sich von dort weiter nach Santiago aufmachten. Aber der ist für mich zu kurz, nur etwa 120 km, die man schon in sechs Tagen schaffen kann.«
»Wie lange willst du denn wegbleiben?«, schnaubt er.
»Zwei Monate.«
Er fährt zusammen und starrt sie aus großen Augen an.
»So