Weine nicht, wenn der Regen fällt. Tam tam, tam tam. Es gibt einen, der zu dir hält. Tam tam, tam tam … Drafi Deutscher besang die Geschichte von Marmor, Stein, Eisen und dem Regen. Wie treffend für diesen trüben Tag. Normalerweise waren um diese Uhrzeit immer noch Leute unterwegs, bei aller Kahlheit hatte der Park schließlich auch im Winter seinen Reiz. Heute war dem Läufer noch keine einzige Menschenseele begegnet. Das heißt, bis auf die kleine Gruppe Raucher vor dem Eingang der Schlossgaststätte, die jetzt vor ihm auftauchte. Frierend drängten sie sich unter einem Sonnenschirm eng aneinander und zogen gierig an ihren Glimmstängeln. Er beachtete sie nicht weiter, konzentrierte sich auf seinen Weg, seine Laufschritte und seine Atmung.
Ein Augenpaar aus der Gruppe der Raucher hatte ihn allerdings sofort erkannt. Es folgte ihm, als er vorbeihastete, um auf Höhe des alten Wasserturms wieder rechts in den Wald abzubiegen. Ein Blick voller Groll – aber noch war Zeit. Zweimal würde der Jogger hier noch vorbeikommen, es gab keinen Grund, jetzt schon zu handeln.
Schritt für Schritt, immer im gleichmäßigen Tempo, wie ein Präzisionsuhrwerk, hatte der Läufer rund eine Stunde später seine zehn Kilometer nahezu geschafft. Er bog gerade wieder in den Kanalgarten ab und weiter in Richtung Parkplatz. Erst 1977 war dieses Stück der Eremitage nach alten Plänen renoviert worden und entsprach nun wieder seinem ursprünglichen Aussehen. Für die aparte Anlage mit ihrem langen, engen Wasserkanal samt drei Bassins, den unzähligen Heckenquartieren und Laubengängen, in denen in der warmen Jahreszeit vor allem Kinder gerne Versteck spielten, hatte der Jogger auf seinen letzten Metern aber kein Auge. Zwischenzeitlich war er, trotz seiner hochprofessionellen Kleidung, ordentlich durchnässt und wollte nichts anderes als schnell nach Hause und ein heißes Bad nehmen.
Als er den Parkplatz erreichte, schüttete es immer noch wie aus Kübeln und eine unangenehme Kälte kroch ihm in die Glieder, während er sich nach der Anstrengung des Laufs abdehnte. Da sah er die Bescherung. Sein Mercedes stand nicht mehr so, wie er ihn verlassen hatte, die Haube war seltsam abgesackt. Im Dunkel der aufkommenden Nacht trat er näher heran, fluchte wie ein Kesselflicker und warf voller Wut seine Regencap auf den nassen Asphalt. Die beiden vorderen Reifen waren platt. Schöne Scheiße. Das konnte nur einer dieser oberfränkischen Vollpfosten gewesen sein, der sich einen Spaß daraus machte, Reifen an ortsfremden Autos zu zerstechen. Ein unbekanntes Kfz-Kennzeichen konnte bei diesen Typen schon Grund genug sein.
Was für eine Woche! Dieser Tage war schon alles zusammengekommen: Los ging es, als er am Mittwoch sein Handy verlegte. Er wusste bis heute nicht, wo es abgeblieben war. Gott sei Dank hatte er eine Sicherungskopie all seiner Kontakte auf dem Computer gespeichert. Ohne Handy – das ging gar nicht, also besorgte er sich am nächsten Tag gleich ein neues Modell, übergangsweise mit Prepaid-Karte; für seine Herzallerliebste wollte er erreichbar sein, die war am Mittwochmorgen zu einer Tagung ihrer grünen Partei nach Hof abgereist. Hätte er sich auch sparen können, seit ihrem Aufbruch hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet. Sehr ungewöhnlich für sie. Noch schlimmer: Seine Anrufe hatte sie weggedrückt, seine SMS unbeantwortet gelassen. Lag’s an der neuen, unbekannten Nummer? Er machte sich Sorgen. Sie schwebten doch beide noch auf Wolke Sieben. Oder etwa nicht mehr? War irgendetwas passiert, von dem er keine Ahnung hatte? Morgen erst würde sie zurückkommen. Wenn er sich nicht ablenkte, machte ihn die Situation halb wahnsinnig.
Und dann dieser triste Tag heute; am Vormittag hatte er seine Zugehfrau gefeuert. Die meinte offenbar, dass sie sich alles erlauben konnte. Nicht nur, dass sie immer unzuverlässiger geworden war, auch Diebstahl stand zuletzt auf ihrem Programm. Klar lag eine gehörige Mitschuld bei ihm selbst. Man ließ eben Geld nicht offen in Schubladen herumliegen. Gelegenheit macht Diebe. Trotzdem, da waren einige Fünfziger verschwunden, das konnte er nicht mehr durchgehen lassen.
Der Zoff mit Manfred hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Wegen einer Lappalie! Schuld war nur seine Ex, das stand außer Frage. Von Neid zerfressen, voller Vorwürfe und eine Meisterin im Stiften von Zwietracht.
Dass gestern Abend auch noch dieses Sexmonster Aischa Bint Malika Al-Bagdadi vor seiner Haustür stand, Sturm klingelte und Einlass verlangte, versuchte er immer noch zu verdrängen. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Als ob er wegen diesem kleinen Wertpapiergeschäft nach ihrer Pfeife tanzen würde, lächerlich. Und gefährlich für seine aktuelle Beziehung. Da zeigte sich einmal wieder: Geschäft und Privates gehört sauber getrennt!
Das hatte er sich auch gedacht, als am Dienstag die seltsame SMS eingetrudelt war – unbekannte Nummer, unterzeichnet mit „Bill“. Der einzige Bill, den er kannte, hatte gerade die deutsche Steuerfahndung an der Backe, atmete vermutlich sogar schon gesiebte Luft und saß in U-Haft. Der SMS konnte man nicht trauen. Eventuell ein plumper Trick der Steuerfahnder, auf diese Leimrute würde er sicherlich nicht kriechen. Er hatte einfach nicht geantwortet.
Momentan schien wirklich alles aus dem Ruder zu laufen. Und nun die platten Reifen mitten im Scheißregen.
Mit der Lampe seines neuen Handys beleuchtete er die beiden Vorderreifen notdürftig. Eindeutig zerstochen. Damit kam er hier nicht weg. Er sah sich um. Der Parkplatz war fast vollkommen leer. Nur ein japanisches SUV-Modell stand, einsam geparkt, rund fünf Meter hinter seinem Mercedes. Vom Fahrer des Wagens war weit und breit nichts zu sehen.
Resigniert nahm der Hobbysportler vom Niederrhein sein Mobiltelefon zur Hand, drückte auf „Kontakte“ und scrollte durch die neu abgespeicherten Nummern. Dann wählte er, nachdem er die Kopfhörer aus seinen Gehörgängen genommen hatte, die 22333.
„Taxi Union Bayreuth“, meldete sich eine weibliche Stimme.
„Bitte schicken Sie einen Wagen zum öffentlichen Parkplatz an der Eremitage. Königsallee. Der Fahrer soll dorthin kommen, wo normalerweise die Reisebusse parken.“
„Gerne“, hörte er die angenehm weiche Stimme der Frau, „kann aber rund sieben bis zehn Minuten dauern. Unsere Fahrzeuge sind momentan alle mit Kunden im Einsatz. Der Dauerregen …“, versuchte sie sich zu entschuldigen. Dann war sie weg.
„Schöne Scheiße!“ Er stöpselte seine Kopfhörer wieder ein und wandte sich dem Kofferraum seines Wagens zu. Völlig durchnässt würde er sich nicht in seinen Mercedes setzen. Er hatte schließlich vorgesorgt, im Laderaum lagen ein frisches Shirt und eine warme Jacke, einen Schirm hatte er sowieso immer dabei. Ob er lieber unter dem Vordach des Pavillons warten sollte? Oder doch beim Wagen? Am Ende übersah ihn der Taxifahrer noch und fuhr unverrichteter Dinge wieder davon. Das hätte ihm gerade noch gefehlt.
My makeup is dry and it clags on my chin. I’m drowning my sorrows in whisky and gin … fetzten die Kinks an die Trommelfelle des Joggers, der sich tief in den Kofferraum beugte, um nach seinem Knirps zu suchen. Der Parkplatz lag nun in fast vollkommener Dunkelheit. Die wenigen Laternen, die hier standen, hatten mit ihrem diffusen Licht kaum eine Chance gegen den dicht fallenden Regen.
Dass sich hinter dem japanischen SUV eine geduckte Gestalt aus dem Schatten des Fahrzeugs löste und auf leisen Sohlen näherte, bekam er nicht mit. Dave Davis, der Leadgitarrist der englischen Musikgruppe, schmetterte ungebrochen die Rockballade vom sterbenden Clown. Als der Stahl der Klinge zwischen seine Rippen fuhr, war es bereits zu