2.10 Kuriosum: Gipser verarbeiten Gips, Estrichleger verarbeiten Calciumsulfat
Bereits Ende der 50er-Jahre hat sich der Begriff „Anhydritestrich“ durch den in dieser Zeit auf den Markt kommenden synthetischen Anhydrit etabliert. Im Zuge der Normungsarbeit an der DIN 18560 in den 70er-Jahren hat man schließlich den Begriff „Calciumsulfatestrich“ gewählt. Chemisch ist Anhydrit und Hochbrandgips ja eigentlich dasselbe. Das hat auch nicht wirklich technische Gründe, sondern eher verbandspolitische. Damals wurde das Phänomen hochemotional diskutiert. Stuckateure durften nach der Handwerksordnung Gipsestrich verlegen. Dann konnten Estrichleger natürlich Gipsestrich (Anhydritestrich) nicht Gipsestrich nennen, sondern mussten eine andere Bezeichnung finden.
Handwerksrechtlich hat sich diese Diskussion mittlerweile erübrigt. Das Kuriosum ist geblieben. Stuckateure verarbeiten Gips. Estrichleger verarbeiten Calciumsulfat. Man hat sich daran gewöhnt. Manche Estrichleger muss man allerdings gelegentlich daran erinnern, dass Calciumsulfat eben nun mal Gips ist und nur in trockener Umgebung verlegt werden darf.
Eventuell dient es dem beseren Verständnis, wenn man genauer betrachtet, welche Formen Gips annehmen kann. [19] In Abhängigkeit von den Rohstoffen und vor allem den Brennbedingungen entstehen im Herstellungsprozess verschiedene Modifikationen des Gipses und des Anhydrits, die auch als Phasen bezeichnet werden. Leistung und Know-how der Gips herstellenden Unternehmen bestehen u. a. darin, die verschiedenen Phasen zielgenau in optimaler Art und Menge zu erzeugen und zu Bindemitteln mit exakt definierten Eigenschaften zu mischen. Das war früher noch nicht so genau möglich, da meistens undefinierte Mischformen vorlagen, die die Verarbeitung erschwerten.
Umwandlung des Gipses beim Brennen (Bild: In Anlehnung an eine Darstellung aus einem Vortrag von Dieter Altmann).
Gips und Anhydritphasen [19]
Calciumsulfat-Dihydrat (CaSO4·2H2O) Natürliches Gipsgestein, auch Rohgips genannt, besteht als Ausgangsstoff der Gipsherstellung aus Calciumsulfat-Dihydrat; ebenso der in technischen Prozessen gewonnene Gips, z. B. REA-Gips. Gleichzeitig liegen alle abgebundenen Endprodukte als Dihydrat vor, also beispielsweise Gipsplatten, Gips-Wandbauplatten, Gipsputze und -spachtelmaterialien. Die Übereinstimmung von Ausgangsstoff und Endprodukt ist eine der Besonderheiten von Gipsbaustoffen.
Calciumsulfat-Halbhydrat (CaSO4·½H2O)Calciumsulfat-Halbhydrat entsteht im Brennprozess des Gipses, der auch „Kalzinieren“ genannt wird. Technisch relevant sind zwei unterschiedliche kristalline Formen: α- und β-Halbhydrat, die unterschiedliche physikalische Eigenschaften bei gleicher chemischer Zusammensetzung haben. α-Halbhydrat-Gips wird unter Druck in Autoklaven bei Temperaturen im Bereich von 100 °C bis 150 °C hergestellt. α-Halbhydrat bildet einen sehr harten Gips und dient zur Herstellung von Estrichgips. Vor allem in Großkochern und kontinuierlich zu beschickenden Drehrohröfen wird β-Halbhydrat bei Temperaturen von etwa 120 °C bis 180 °C gewonnen
Anhydrit III (CaSO4)Anhydrit III wird auch als löslicher Anhydrit bezeichnet. Er existiert ebenfalls in zwei Formen, die als α- und β-Anhydrit III bezeichnet werden. Er entsteht im Brennprozess durch weitere Entwässerung des Halbhydrats bereits bei Temperaturen ab 100 °C.
Anhydrit II (CaSO4)Anhydrit II entspricht in seiner chemischen Zusammensetzung dem natürlich vorkommenden Anhydrit. In der industriellen Produktion entsteht das Material bei der vollständigen Entwässerung von natürlichem oder technisch entstandenem Dihydrat, Halbhydrat oder Anhydrit III. Die Umwandlung zu Anhydrit II beginnt unter Laborbedingungen bei 200 °C, die Bildungstemperatur im technischen Prozess liegt bei 300 °C bis 900 °C. Es wird deshalb auch von Hochbrand-Gips gesprochen, der sich nach der Brenntemperatur und Reaktionsfreudigkeit mit Wasser in drei Varianten unterscheiden lässt: Anhydrit IIs ist schwerlöslich und entsteht unterhalb von 500 °C, das unlösliche Anhydrit IIu bildet sich zwischen 500 °C und 700 °C. Darüber entsteht Anhydrit IIE Estrichgips.
Anhydrit I (CaSO4) Werden die Brenntemperaturen noch weiter erhöht, bildet sich ab etwa 1180 °C Anhydrit I, das historisch auch als „totgebrannter Gips“ bezeichnet wurde.
Mehrphasengips Moderne Brenntechnik und die genaue Kenntnis der ablaufenden Prozesse erlauben heute in Rostbrandöfen oder Trägergas-Brennanlagen die Herstellung von Mehrphasengips, bei dem die verschiedenen Phasen in den jeweils gewünschten Anteilen schon beim Kalzinieren entstehen.
2.11 Bindemittel für Calciumsulfatestriche heute
[19] Heute besteht das Bindemittel für Calciumsulfatestriche überwiegend aus reaktiven CaSO4 -Phasen in Form von Anhydrit aus natürlichen Vorkommen oder aus technischen Prozessen wie der Rauchgasentschwefelung (thermischer Anhydrit) und Flusssäureherstellung (synthetischer Anhydrit). Es liegt aber auch in Form von CaSO4·½H20 bzw. Mischungen verschiedener Ca-SO4 -Phasen vor. Diesem Binder, der mindestens 85 % CaSO4 enthalten muss, können Zusatzmittel wie Anreger, Verzögerer oder Fließmittel zugesetzt sein.
Daneben gibt es heute auch Mischungen mit anderen Bindemitteln, sogenannte Compositbinder (Compoundbinder). Diese bestehen aus dem CaSO4 -Binder und Zusatzstoffen wie Puzzolanen, Kunstharz oder Zement. Der CaSO4 -Anteil der Compoundbinder muss mindestens 50 % betragen.
2.12 Fließestrich
Der Calciumsulfatfließestrich wurde Ende der 60er-Jahre durch Emil Höllfritsch entwickelt. Höllfritsch meldete im Zusammenhang mit dieser Idee eine große Zahl von Patenten an. Diese betreffen auch Hohlraumböden, Nivellierlehren und andere Hilfsmittel im Zusammenhang mit Fließestrichen. Der richtige Durchbruch stellte sich ab 1970 durch die Entwicklung eines Melaminharzverflüssigers der Süddeutschen Kalkstickstoffwerke (SKW) in Trostberg ein. Hierüber finden sich mehrere Patente aus den Jahren 1970 bis 1971.
Werbung der Firma Bayrisches Duramentwerk, Vollmann & Höllfritsch (Bild: Anzeige aus Schütze „Der schwimmende Estrich”, 1965)
Man sollte meinen, dass die Estrichleger über diese Arbeitserleichterung glücklich gewesen wären und sie begeistert eingesetzt hätten. Der Markt nahm die Erfindung von Höllfritsch aber nicht gerade mit großer Begeisterung, sondern sehr zurückhaltend, eher skeptisch auf. Erst 1982 konnte man allmählich von einer breiteren Anwendung sprechen.
Fließestrichmaschine 1981 an einer Baustelle der Firma Walter E. Kramer Fußbodenwerk in München. Der Mischer ist ein Freifallmischer, der in eine Exzenterschneckenpumpe entleert wird (Bild: Innung Estrich und Belag Wüttemberg).
Erst 1981 machte die Estrichlegerinnung Württemberg eine Exkursion nach München, um sich über diesen neuartigen, selbstverlaufenden und selbstglättenden, aber noch weitgehend unbekannten Estrich zu informieren. Dort erklärte Roland Schmidtchen von der Firma Kramer die Geheimnisse des Fließestrichs. Die Verwendung eines Freifallmischers wurde dadurch erklärt, dass damit weniger Luft in die Mischung geschlagen wird. Auch dem Ausschütten in die Pumpe wurde eine Entlüftung zugesprochen.
Roland Schmidtchen (Bildmitte) von der Firma Kramer in München erklärt im Jahr 1981 Estrichlegern aus Baden Württemberg, wie Fließestrich funktioniert. Schmidtchen war langjähriger Obmann des Arbeitskreises Sachverständige im BEB und Begründer der Sachverständigentagung (Bild: Innung Estrich und Belag Wüttemberg).
2.13 Anhydrit-Fließestrich in der ehemaligen DDR
1972 erhielten das Institut für Baustoffe, Weimar, und die Bauakademie der Deutschen Demokratischen Republik den Auftrag, einen Fließestrich zu entwickeln.
In diese Entwicklungsarbeit waren eingebunden: die Leuna Werke