So nach und nach dämmert allen Regierungsmitgliedern, dass eine Sanierung des ungarischen Staatshaushalts dringend erforderlich ist und viele Jahre dauern wird.
Plötzlich ist Schluss mit lustig. Medgyessy kündigt ein hartes Sparpaket an. „Es kommen Zeiten“, erklärt der 60-Jährige wie ein mahnender Vater, „die Konsequenz, Berechenbarkeit und finanzpolitische Strenge verlangen!“ Wenig später, in seiner Rede zur Lage der Nation, räumt der Regierungschef sogar ein, Fehler gemacht zu haben. „Wir haben die Kraft unserer Wirtschaft überschätzt und die Kraft der Märkte unterschätzt“, sagt ein zerknirscht wirkender Ministerpräsident im Februar 2004.
Erstmals erkennen viele Ungarn, dass Medgyessy als Regierungschef zwar sympathisch, aber eine glatte Fehlbesetzung ist. Diese Erkenntnis ist der Anfang vom Ende Medgyessys als ungarischer Ministerpräsident.
Die EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 und die damit verbundene Feierstimmung in ganz Europa verschaffen dem angeschlagenen Ministerpräsidenten noch eine kurze Ruhephase, bevor die beiden Regierungsparteien, die sozialistische Partei Ungarns (MSZP) und der linksliberale Bund der Freien Demokraten (SZDSZ), die politische Demontage Medgyessys in Angriff nehmen.
Noch vor dem EU-Beitritt Ungarns kündigt Medgyessy eine Regierungsumbildung für den Sommer an. Offenbar hat es hinter den Kulissen heftige Streitereien über die künftige Regierungspolitik gegeben. Einige Minister wollen die von Medgyessy angeordneten Einsparungen in ihren Ressorts nicht akzeptieren, sie sehen die Umsetzung ihrer Politik in Gefahr. Andere wiederum drängen auf die Durchführung lange versprochener Steuersenkungen, schließlich hat man ja noch viele Wahlversprechen zu erfüllen. Grundsätzlich haben alle Minister Sparmaßnahmen befürwortet, nur halt nicht in ihrem Ressort.
Auch das Debakel der Sozialisten bei der Wahl zum Europaparlament löst massive Unruhe unter den Genossen aus. Jedenfalls dürften intern die Fetzen geflogen sein, denn plötzlich bietet Sportminister Ferenc Gyurcsány seinen Rücktritt an. Seinem Beispiel folgt Justizminister Péter Barandy. Beide begründen ihr Rücktrittsangebot mit einem „zunehmenden Vertrauensverlust“. Dabei drehen sie geschickt den Spieß um. Gyurcsány und Barandy sagen nicht, dass sie kein Vertrauen mehr in den Ministerpräsidenten haben, sondern sie beklagen beide weinerlich, dass der Ministerpräsident kein Vertrauen mehr in sie habe und ihnen daher nichts anderes übrig bleibe, als ihren Rücktritt anzubieten.
Die wahren Gründe des gegenseitigen Vertrauensverlustes sind bis heute nicht veröffentlicht worden. Die Journalisten sind gar nicht mehr dazugekommen, die Hintergründe zu recherchieren, weil sich die Ereignisse Mitte August 2004 regelrecht überschlagen.
Während ein sichtlich in die Enge getriebener Ministerpräsident Medgyessy vor der Presse eine Regierungskrise heftig in Abrede stellt, feuert er wenig später gleich drei seiner Regierungsmitglieder: Sportminister Ferenc Gyurcsány, Arbeitsminister Sándor Burany und Wirtschaftsminister István Csillag. Zuvor hat er noch seinen Regierungssprecher Zoltán Gál fristlos entlassen.
Doch Medgyessy macht die Rechnung ohne den Wirt. Csillag ist nämlich Angehöriger seines Koalitionspartners SZDSZ und die Parteispitze der Linksliberalen ist entschieden gegen die Entlassung „ihres Mannes“ in der Regierung. Péter Medgyessy bleibt wieder einmal nichts anderes übrig, als die Vertrauensfrage zu stellen. „Entweder Csillag oder ich“, soll er bei einer internen Sitzung mit den Linksliberalen gesagt haben.
Sein Koalitionspartner entscheidet sich für Csillag. Noch am selben Abend des 19. August 2004 tritt Péter Medgyessy zurück. Die Sozialisten, die ihn drei Jahre zuvor zu ihrem Spitzenkandidaten gemacht hatten, bemühen sich nicht einmal, ihn zu halten. Sie weinen dem „Politiker wider Willen“ – wie Medgyessy in vielen politischen Analysen und Kommentaren bezeichnet worden ist – keine Träne nach.
Shootingstar Ferenc Gyurcsány
Für die beiden Regierungsparteien MSZP (Sozialistische Partei Ungarns) und SZDSZ (Linksliberaler Bund der Freien Demokraten) ist eines völlig klar: Neuwahlen müssen unbedingt verhindert werden, denn die Popularität der Koalition ist an einem Tiefpunkt angelangt, während Viktor Orbáns FIDESZ zunehmend beliebter wird. Beide Parteien sind also gezwungen, sich rasch auf einen Nachfolger von Péter Medgyessy zu einigen. Sie kommen überein, dass der Wechsel an der Spitze der Regierung quasi fliegend erfolgen muss. Die damalige ungarische Verfassung erlaubt so ein Prozedere.
Klar ist auch, dass die Sozialisten aufgrund ihrer Mandatsstärke das Recht haben, den neuen Ministerpräsidenten zu nominieren. Als Erster bringt sich Kanzleiminister Péter Kiss ins Spiel. Er ist ein etwas behäbig wirkender, braver Parteisoldat, der nicht wirklich das Vertrauen der neuen, aufstrebenden Generation bei den ungarischen Sozialisten genießt.
Ferenc Gyurcsány (gesprochen: „Djurtschaanj“), der sich als Sportminister offenbar in weiser Voraussicht von Medgyessy hatte feuern lassen, ist da schon ein anderes Kaliber. Gyurcsány hat seinen Einstig in die Politik von langer Hand geplant. Sein Ziel ist es, Ministerpräsident zu werden. Es geht ihm nicht ums Geld, davon hat er genug, er will Macht.
2002 bietet sich der stinkreiche Unternehmer Ferenc Gyurcsány, von vielen der „Rote Kapitalist“ genannt, als Wahlkampfberater für Péter Medgyessy an. Die im Frühjahr knapp gewonnene Wahl bringt ihm das Amt des Sportministers. Dafür lässt er sogar seine Geschäfte als Direktor einer Investmentgesellschaft ruhen. Minister zu sein ist ihm wichtiger. Der Medienrummel um seine Person ist für ihn viel genussvoller, als weiter in der Anonymität Geld zu scheffeln.
Ferenc Gyurcsány wird am 4. Juni 1961 in der westungarischen Kleinstadt Papa geboren. Er absolviert eine Lehrer-Ausbildung und studiert an der Universität Pécs Volkswirtschaft. Vor der Wende engagiert er sich politisch in der kommunistischen Jugendbewegung KISZ, die nach dem Regimewechsel zum Demokratischen Jugendverband umgewandelt wird, mit Gyurcsány als Vorsitzendem. 1990 geht er in die Privatwirtschaft, wird Mitarbeiter einer Finanzberatungsgesellschaft und steigt zum Direktor einer international tätigen Investmentgesellschaft auf. 1992 gründet er sein eigenes Investmentunternehmen.
Reich wird Gyurcsány durch die sogenannte „spontane Privatisierung“. Der Staat wirft zu dieser Zeit hunderte Immobilien und marode ehemalige Staatsbetriebe zu Spottpreisen auf den Markt, um rasch zu Geld zu kommen. Gyurcsány kauft zuerst im Namen einer Investmentfirma, später borgt er sich von dieser Geld und kauft auf eigene Rechnung. Er weiß genau, wo die Filetstücke zu holen sind. Er kauft und verkauft und kauft und verkauft wieder und macht so Millionen.
Dubios sollen diese Geschäfte gewesen sein, wie viele seiner Kritiker heute noch sagen, illegale Geschäftspraktiken kann man ihm aber nicht nachweisen. Gyurcsány ist eben geschickt, auch politisch. Als enger Berater und Vertrauter von Medgyessy hat er Zugang zu vertraulichen Informationen, er kennt die Hintergründe politischer Entscheidungen sowie die Stärken und Schwächen der handelnden Akteure. Nicht selten kommt es vor, dass Gyurcsány dem Regierungschef die Show stiehlt, indem er Medgyessys Pläne der Presse zuspielt oder sie selbst vorzeitig präsentiert. Wenn er es für dienlich hält, kritisiert der Sportminister auch die Regierungspolitik, so als wäre er gar nicht Mitglied der Regierung, sondern lediglich ein außenstehender Beobachter. Gyurcsány nutzt all sein Insiderwissen, um sein großes Ziel zu erreichen, Ministerpräsident Ungarns zu werden.
Ferenc Gyurcsány ist auch dank seiner Ehefrau Klára Dobrev politisch gut vernetzt. Ihr Großvater Antal Apró war während der kommunistischen Zeit Parlamentspräsident, ihre Mutter Piroska Apró war als Kabinettschefin für den mittlerweile verstorbenen ehemaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Gyula Horn (1994 – 1998) tätig.
Am 25. August 2004 hat Ferenc Gyurcsány sein Ziel erreicht. Er setzt sich in einer Kampfabstimmung gegen den amtierenden Kanzleiminister Péter Kiss souverän durch. Bei einem Sonderparteitag erhält der damals 43-Jährige mehr als zwei Drittel der rund 600 Delegiertenstimmen und wird von der sozialistischen Partei