Wer jemals Zeuge von Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise war, weiß um den Verlauf solcher Debatten. Sie beginnen bei den Problemen der Finanzwirtschaft und enden in Besorgnis über unser wirtschaftlichdemokratisches System als Gesamtes.
Es offenbart sich da eine tiefe Ahnung, dass etwas nicht stimmt in unserem Zusammenleben und dass die Krise der Finanzmärkte letztlich nur das Symptom einer schweren Krankheit ist, die unser Gemeinwesen erfasst hat. Dann wird vom Prinzip des Egoismus und von der Gier gesprochen, von der ungleichen Vermögenszuteilung, von der Bereicherung der Eliten und vom bedauernswerten Zustand des Staates und der Politik, die beide, so die gängige Analyse, ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.
Diese Pflichten bestünden darin, die Kohäsion, den Zusammenhalt der Gesellschaft, zu fördern, indem alle Bürgerinnen und Bürger – gleich welcher Herkunft – mit Chancen ausgestattet werden, sich in dieser Gemeinschaft zu verwirklichen. Es geht aber auch um die Verteilung der gemeinsamen Güter unter der Bedachtnahme, dass nicht der eine viel zu viel, der andere aber trotz Arbeit gar nichts habe – weder Vermögen noch Rechte.
Wir sind nicht die erste Generation, die sich in einer existenziellen und moralischen Krise wähnt. Die abendländische Geschichte ist voll von solchen Krisen – aber auch von Konzepten und Ideen zu ihrer Beseitigung. Sie haben ihre Wurzeln teilweise im antiken Griechenland und sind bis heute wirksam. Wir wollen die bedeutendsten von ihnen im ersten Teil des Buches vorstellen.
Platon und Aristoteles bilden den Ausgangspunkt. Ihr Einfluss reicht weit über das Mittelalter hinaus: bis zu den ersten Kapitalisten und – auf der anderen Seite – bis zu den utopischen Sozialisten und Karl Marx. Der Leser wird entdecken, dass einige der bekanntesten ökonomischen Schriften vorsätzlich missverstanden, sinnentstellend interpretiert oder ganz einfach verdrängt wurden – zumeist aus ideologischen Gründen. Er wird aber auch entdecken können, dass viele dieser Ideen heute aktueller wären denn je.
So wie wir in den vergangenen Jahrhunderten die Frage der Gerechtigkeit und der Verteilung innerhalb eines Staates diskutierten, so müssen wir heute auch die Globalisierung und ihre Wirkung auf die weltweite Verteilung der Güter betrachten. Denn das Ungleichgewicht, das von jeher zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen besteht, vergrößert sich tendenziell, anstatt sich zu vermindern. Wir haben es also mit einem doppelten Verteilungsdrama zu tun: einem nationalen und einem globalen.
Diese Kapitel werden Basis und Anregung bieten für eine Auseinandersetzung mit Politik und Finanzwirtschaft der Moderne, die den zweiten Teil des Buches bildet. Welche Änderungen in Staat und Wirtschaft sind notwendig, um die Zukunft zu meistern? Welche Reformen braucht das System, um seine Ziele der gesellschaftlichen Kohäsion wieder erfüllen zu können? Wie können vor allem jene wieder gefördert und gestärkt werden, die den Löwenanteil zum Reichtum durch ihre tägliche Arbeit beitragen: die Unternehmer sowie die Arbeiter und Angestellten der Realwirtschaft? Wie kann dieser Mittelstand gefördert und vergrößert werden? Was kann die Finanzwirtschaft zu einer gerechten Verteilung von Chancen und Gütern beitragen? Die im zweiten Teil enthaltenen Antworten auf diese Fragen und konkrete Vorschläge sollen Anhaltspunkte für ein Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts bilden. Denn wir wollen nicht den Pessimismus zum Leitmotiv unserer Überlegungen machen. Für Österreich lässt sich doch sagen, dass wir – ökonomisch – noch nie in einer so guten Situation waren. Leider halten viele die gegenwärtigen Zeiten für schlechte. Was wir aber wollen, ist einige Ideen vorstellen, die für manche der offenen Fragen Lösungsansätze bieten. Wir betreiben also vorsichtigen Optimismus – auch wenn’s manchmal nicht ganz leicht ist.
Oliver Tanzer
Josef Taus
Wien, Mai 2011
Es begann mit einem göttlichen Fluch
Plutos, der Gott des Reichtums, wurde geboren aus Wollust und Mord. Die Göttin der Fruchtbarkeit, Demeter, verfiel während eines Festes der Himmlischen dem Charme und der Schönheit des Titanen Iasion. Ein frisch gepflügtes Feld war das Bett, auf dem die beiden Plutos zeugten. Die Erde an ihrem Rücken aber verriet Demeter, als sie in den Kreis der Götter zurückkehrte. Zeus entdeckte das Verhältnis und tötete Iasion mit einem Blitz. Das Kind der Demeter aber blendete er. So klammert sich der kleine Plutos an sein Füllhorn, randvoll mit den Reichtümern der Erde. Und er verschüttet sie blind und ohne Ansehen der Verdienste über einzelne Menschen.
Der Autor, der vor gut 2600 Jahren diese Sage erfand, hatte einen tiefen poetischen Sinn für verborgene Schatten der Psyche und gleichzeitig die hellste Klarsicht über die ehernen Gesetze gesellschaftlicher Realität: die Sucht und das Verlangen, aus denen Reichtum entsteht, die natürlichen Ressourcen der Erde, aus denen er sich speist, die Willkür, mit der er sich fortpflanzt.
Aus diesen Komponenten werden wir im Folgenden das Problem der Verteilung herausschälen. Dies und die Frage, welche Rolle dabei das Gemeinwesen einzunehmen hat, sind die Kernfragen der menschlichen Gesellschaft. An ihr entzünden sich seit mehr als 2000 Jahren Intrigen, Aufstände, Kriege und Revolutionen.
Lange schien das Problem nicht aktuell zu sein – zumindest nicht für die reichen Teile der Menschheit. In einer Gesellschaft des überbordenden Konsums und des scheinbar unbegrenzten Wachstums hatte ein jeder sein Auskommen – und sehr viele hatten sehr viel mehr als das. Nun aber fallen die Schatten der Globalisierung und der Wirtschaftskrise auf uns. Das ändert das Bild. Brüche werden sichtbar und Sprünge klaffen in der scheinbar heilen kapitalistischen Fassade.
Die Sicherheit als Grundpfeiler, der allgemeine Reichtum als Substanz, das solide Sozialgefüge als Polster der Gesellschaft scheinen verloren zu gehen. Warum ist das so? Gibt es Lehren und Modelle, die zu einem gerechteren Miteinander führen würden, die gleichsam Plutos die Augen öffnen könnten?
Auf den folgenden Seiten werden wir einige von ihnen vorstellen. Platon und Aristoteles suchen wir im antiken Athen auf, Thomas von Aquin im mittelalterlichen Paris, Adam Smith im schottischen Glasgow des 18. Jahrhunderts – um nur einige zu nennen. Die Werke der großen Wirtschaftsdenker sollen auf die Themen Arbeit, Zins, Geldwirtschaft und Gerechtigkeit hin durchforstet werden.
In diesem Sinne begeben wir uns auf eine Reise durch die Geschichte der Verteilung von Gütern und Chancen, die im Zentrum der abendländischen Welt um 500 v. Chr. beginnt: in Griechenland – nur einen historischen Wimpernschlag nach dem Sündenfall Demeters und Iasions. Dort öffnet sich ein Kosmos des politischen Denkens, der die schönsten, manchmal seltsamsten und bizarrsten Blüten treibt, welche – ehe sie zugrunde gehen – ihre Samenkörner über das gesamte Abendland ausstreuen.
Speckbrei und Hunger
In Athen, dem Mittelpunkt der griechischen Antike, heißt es nun Anker werfen. Als Berater und Führer durch diese Zeit wird uns Diogenes zur Seite stehen, landläufig bekannt als schrulliger Mann, der aus einem Fass heraus Alexander den Großen anschnauzte, ihm gefälligst aus der Sonne zu gehen. Was ihn für unsere Zwecke besonders geeignet macht, ist, dass er auch selbst einiges von Wirtschaft verstand. Er war der Spross eines Finanzbevollmächtigten und Bankiers in Sinope am Schwarzen Meer. Vater und Sohn waren aber auch mit der künstlichen Vermehrung von Geld beschäftigt – sie wurden jedenfalls wegen Falschmünzerei angeklagt und aus der Stadt gejagt. Diogenes hat daraus die Konsequenz gezogen, fortan arm zu bleiben. Geldgier, so meint er, ist „die Metropole aller Übel“.1
Mit krummem Rücken schreitet er uns nun voran, alles und jedes kritisierend, mit allem und jedem seinen Spott treibend. Das Erste, wovor er uns warnt, ist, sich unter den alten Griechen eine Ansammlung hoch kultivierter Damen und Herren in blütenweißen Togen am azurblauen Meer vorzustellen. In Wahrheit seien