In der schamanischen Kosmologie spielt der Weltenbaum eine Schlüsselrolle: Er ist Sinnbild für die axis mundi, die „Himmelsleiter“, die das Weltgefüge konstituiert und strukturiert. An seinem Stamm vermögen die Schamanen die drei Welten zu erklettern. Für den Schamanismus ist der Weltenbaum fundamental, und ohne Schamanismus macht ein Weltenbaum kaum Sinn. Dass ein solcher kosmischer Baum nun auch für die Germanen von zentraler Bedeutung war, lässt sich leichterdings belegen: In der nordischen Mythologie ist von einer Esche Yggdrasil die Rede, die das All verkörpert und in deren Schatten die Götter Rat halten. Äste, Stamm und Wurzeln dieses Baumes umfassen die drei Welten: Asgard, Midgard, Utgard. Von Odin, dem germanischen Ekstasegott, wird der Weltenbaum – eindeutig schamanisch – rituell erklettert.
Indes ist das doch keine Kleinigkeit, wenn im Mittelpunkt der germanischen Mythologie – im Zentrum des heiligen Haines – ein Weltenbaum gedeiht, also das Symbol des Schamanismus. Vielmehr lässt die exponierte Position des Baumes auf eine besondere, ja substanzielle Bedeutung des Schamanismus bei den Germanen schließen. Das ist zumindest eine ziemlich „heiße Spur“. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die germanische Religionskultur gerade doch und ganz grundsätzlich vom Schamanismus beherrscht und schamanisch strukturiert gewesen ist.
Das Gespräch mit Hasenfratz ließ mich an die Samí denken, jenes letzte indigene Volk Europas, das im zirkumpolaren Skandinavien („Lappland“) beheimatet ist. Wenngleich der Lebensraum der Samí sich über weite Teile Norwegens und Schwedens erstreckt, zählen sie doch nicht zu den Germanen; sie sprechen keine germanische, sondern eine uralische Sprache. Vermutlich wanderten die Samí kurz nach der letzten Eiszeit (ca. 10.000-5.000 v. u. Z.) aus dem nordwestlichen Sibirien nach Nordeuropa ein. Immerhin teilen sie mit den Sibiriern eine sehr spezielle Weltanschauung – den Schamanismus. Die alten Samí verehrten die Natur und gingen von der Allbeseelung des Kosmos aus sowie davon, dass ein Schamane – ein „Nojade“ – die Fähigkeit besitzt, mit dieser von Geistwesen belebten Umwelt in Kontakt zu treten. Das wichtigste Ritualgerät der samischen Nojaden war natürlich die Schamanentrommel (südsamisch: gievrie; nordsamisch: gobdas) mitsamt dem aus Rentiergeweih gefertigten Schlägel. Das Fell vieler dieser Trommeln ist bemalt mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Wesen aus der Anderswelt und Ahnengeistern. Es handelt sich um eine Art mythische Weltkarte, die es dem Nojaden möglich macht, sich während seiner Jenseitsreise orientieren zu können. Im mythologischen Bewusstsein der Samí ist diese Schamanentrommel aus dem Holz des Weltenbaums gefertigt.
Die frühste schriftliche Quelle zu den Samí ist ausgerechnet die Germania (98 n. u. Z.) des antiken Historikers Tacitus, ein Buch, das als wichtigste Quelle zur Kultur und Religion der germanischen Stämme gehandelt wird. Dass die Samí gar keine Germanen sind, hat Tacitus zwar geahnt, doch führt er sie gleichwohl in seinem ethnographischen Bericht auf, weil sie der germanischen Kultur so nahestehen. Tatsächlich trieben Samí und Germanen einen regen Tauschhandel, und es ist durchaus naheliegend, dass sie sich auch geistig-kulturell austauschten. Sollte hier der missing link liegen, durch den sich der Schamanismus – als Phänomen zirkumpolarer Völker – in die germanische Kultur transferieren lässt? Bezeichnenderweise werden in der Chronicon Norvegicum (12. Jhd.), der ältesten schriftlichen Quelle zum Schamanismus bei den Samí, die magischen Tätigkeiten der Nojaden mit den altnordischen Worten gandr bzw. galdr beschrieben, Bezeichnungen, die gleichsam zur Beschreibung der Zauberkünste der Germanen dienten. Nicht unwahrscheinlich, dass nicht nur die Worte, sondern auch die Techniken sich überschneiden. Es gibt eine Samí-Gottheit mit dem Namen Horragalles (auch Thora Galles oder Thoron), die verblüffende Ähnlichkeiten aufweist mit dem germanischen Gott Thor/Donar: Beide gelten als Wetter- und Gewittergott und werden dargestellt mit einem Hammer, so auf einer Schamanentrommel aus dem 18. Jahrhundert, die in Lappland (Norwegen) gefunden wurde. Der Frau von Horragalles, Ravdna, sind die Beeren der Eberesche heilig. In der germanischen Edda ist wiederum die Rede davon, dass die Eberesche dem Thor geweiht ist (Skáldskaparmál 18).
Zudem gibt es den berühmten Runenstein von Möjbro (Schweden). Dieses rund zweieinhalb Meter hohe germanische Kultdenkmal aus der frühen Wikingerzeit (5.-7. Jhd.) stellt kunstvoll einen von zwei Hunden begleiteten Reiter dar, der angeblich ein Schwert und einen Rundschild in den Händen hält. Als ich den Stein zum ersten Mal sah, dachte ich jedoch: „Das ist ein germanischer Schamane, der mit einem Stöckel auf die Rahmentrommel schlägt. Er reitet auf dem Schamanenpferd und wird begleitet von den Höllenhunden, den Hütern der Schwelle. Das ist der Schamanengott Odin mit seinen Krafttieren, dem Pferd Sleipnir und den Wölfen Geri und Freki“. Tatsächlich erkennt man bei genauerer Betrachtung, dass der längliche Gegenstand des Reiters an der Oberspitze eine Rundung aufweist – schlecht für ein Schwert, typisch für den Schlägel.
Dass die germanische Mythologie und Religion fürwahr alles das zu bieten hat, was man bei schamanisch strukturierten Völkern findet – Ekstasegötter und Jenseitsreisen, Zauberkünste und Zerstückelungen, Heilmagie und Liebeszauber, Trommelkult und Tierverwandlungen, Rauschorgien und Zauberpflanzen – soll dem Leser im Folgenden vor Augen geführt werden.
Wotan reitet auf dem Schamanenpferd und schlägt die Trommel. Runenstein von Möjbro (Schweden), 5.-7. Jhd.(Rundata U 877)
Was ist Schamanismus?
Der „Schamane“
„Der Schamane ist ein Mensch mit großen magischen Kräften, der sich mithilfe von Tanz, Musik und Drogen in Rauschzustände versetzt, um Seelenreisen zu unternehmen und Verbindung mit den Verstorbenen und Geistern aufzunehmen. Die Schamanen wirken als Priester und Heiler“.1
Diese Definition der Duden-Redaktion klingt zunächst recht zutreffend, ist jedoch zugleich so vage formuliert, dass sich jeder darunter etwas anderes vorzustellen vermag. Tatsächlich besteht hinsichtlich der Frage, was Schamanismus ist, Uneinigkeit. Das liegt auch daran, dass der Begriff in akademischen Traktaten und esoterischen Romanen gleichermaßen anzutreffen ist – mit grundsätzlich differierender Konnotation. Während kritisch-rationale Wissenschaftler in der Regel davon reden, dass es gar nicht einen oder den Schamanismus gibt und ihren Gegenstand zuweilen weg-rationalisieren, sind sich viele Neo-Heiden sicher, dass der Schamanismus so etwas wie die Ur-Religion der Menschheit ist und verwechseln manchmal Evidenz und Einbildung. Während manche Ethnologen noch nie einen Schamanen live erlebt haben, halten einige moderne Ethnos sich gar selbst für authentische Schamanen.
Einen ersten Hinweis darauf, was Schamanismus ist, gibt die Etymologie des Wortes: „Schamane“ leitet sich vom sibirisch-tungusischen Wort šaman ab und heißt „der, der weiß“ bzw. „der erregt ist“ oder auch „weiser Mann“. Der Schamane ist also ein Mensch, der im Zustand der Erregung (Raserei, Ekstase) eine Art von Wissen oder Erkenntnis erfährt. Der Ursprung des Wortes šaman wiederum wird im Hunnisch-Ungarischen kám, „Wahrsager, Seher“, vermutet. Demnach ist der Schamane dazu in der Lage, das in der Erregung geschaute wahre Wissen mythisch mitzuteilen. Vielleicht hängt šaman auch mit dem Sanskrit-Wort cramana „Bettelmönch, Asket“ zusammen, was auf die Funktion des Schamanen als Mystiker und Magier sowie als praktischer Philosoph hindeutet.
Jedoch gilt es zu beachten, dass der Begriff „Schamane“ nicht zwingend eine Selbstbezeichnung derjenigen ist, die „schamanisch“ tätig sind, sondern nur bei ganz bestimmten Völkern Nord- und Mittelasiens verwendet wird. Vielmehr hat jede Kultur und Tradition – sogar unter verwandten Völkerschaften – ihren eigenen Begriff: Noch „im 19.-20. Jahrhundert gab es bei den Völkern Mittelasiens und Kasachstans keine einheitliche Bezeichnung für Schamanen“.2 Nicht der Begriff also, sondern das Phänomen „Schamanismus“ ist weltweit verbreitet – und zeitlos.
Steinzeit-Schamanismus
Der